© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/99 25. Juni 1999


80 Jahre Versailles: Die Europäische Neuordnung ist noch nicht beendet
Locker eingebunden
Peter Lattas

Der Mythos Versailles ist unverwüstlich. "Deutschland wird zahlen", sagte man in den zwanziger Jahren. Heute zahlt es. "Maastricht, das ist der Versailler Vertrag ohne Krieg", schrieb Chefredakteur Franz-Olivier Giesbert am 18. September 1992 im Pariser Le Figaro. Sei es der horrende EU-Nettobeitrag oder die selbstverständliche Annahme, Deutschland werde wie bei jedem gemeinsamen Abenteuer so auch beim Wiederaufbau Serbiens die Hauptlast tragen – das le boche payera tout leuchtet auf den ersten Blick unmittelbar ein.

Aber ganz so einfach ist es nicht. Die Rollen haben gewechselt: Der ausgeplünderte und gedemütigte Verlierer im unentrinnbaren Würgegriff der internationalen Schuldenverwalter ist heute nicht mehr Deutschland, sondern der andere Outlaw der Versailler Ordnung – Rußland. Wenn der Bär – beispielsweise im Kosovo-Krieg der Nato – eigene außenpolitische Interessen artikuliert, brauchen die "Großen" nur kurz am Umschuldungs-Nasenring zu ziehen, um ihm den Schneid wieder abzukaufen.

Die geopolitischen Rahmenbedingungen sind in Bewegung geraten. Giesbert prägte seine markante Definition von Maastricht als Super-Versailles auf dem Höhepunkt der jugoslawischen Erbfolgekriege. Zu jener Zeit zeigten sich die Vereinigten Staaten eher desinteressiert an europäischen Balkanquerelen, während England und Frankreich um jeden Preis ihren großserbischen Verbündeten von 14/18 die Stange hielten.

Das war ein Rückfall in Versailler Reflexe, ein Restaurationsversuch. Die Versailler Ordnung – Amerika in Isolationismus, Rußland aus dem Rennen geworfen – hatte keine zwanzig Jahre gehalten. Die Ordnung von Jalta, das Kondominium der Supermächte über Europa, war nach über vierzig Jahren ebenfalls untergegangen. Die fixe Idee, Jugoslawien als Bestandteil der geheiligten Versailler Nachkriegsordnung zu retten, um damit Deutschland in Schach zu halten, war anachronistisch. Denn die zweite Flügelmacht, Amerika, war keineswegs wieder in Isolationismus verfallen und aus Europa verschwunden.

Auf Versailles und Jalta folgt auch für Europa die "Neue Weltordnung". Versailler Kunststaaten wie Tschechoslowakei und Jugoslawien sind aufgelöst. Amerika gibt den Ton an, und Rußland soll weiter draußenbleiben. Frankreich und Großbritannien wachen kleinlich und eifersüchtig über ihren verblaßten Sonderstatus. Deutschland könnte als neuer US-"Festlandsdegen" einen erhöhten Stellenwert beanspruchen; um so enger wird es deshalb in die neue Weltordnung eingebunden, wobei der durch die Nato-Osterweiterung in neuer Form wiederauferstandene cordon sanitaire von Polen zur Tschechei eine besondere Rolle spielt. Soweit Deutschland betroffen ist, steht eine Revision der Ergebnisse von Versailles und Jalta nach wie vor nicht zur Debatte.

Ein Fortschritt gegenüber dem Versailler System ist daher nicht zu entdecken. Denn die Schwarz-Weiß-Dialektik, die die Staaten Europas in "gute" und "böse" einteilt, ist geblieben – auch wenn einstmals "gute" wie Serbien jetzt selbst zu "bösen" werden können. Die massive Einmischung der Vereinigten Staaten hat die Moralisierung der Politik, die Verwischung von Krieg und Frieden noch intensiviert.

Die Umerziehung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg war eine ebenso logische Folge dieser Dialektik wie die von Goldhagen & Co. erhobene Forderung nach einer "Umerziehung" der Serben. Der Kosovo-Krieg war weder der erste noch der letzte Krieg um die neue Weltordnung, der sich humanitärer Vorwände bediente. Allerdings war der Kosovo-Krieg der erste, den die Deutschen auf der "richtigen" Seite mitgemacht haben.

Die deutsche Außenpolitik kann aus dieser neuen Lage freilich keinen Gewinn ziehen. Denn eine unabhängige Formulierung eigenständiger nationaler Interessen findet nach wie vor nicht statt. Der Versuch, den Wechsel der Ordnungen zum Ausloten neuer Spielräume zu nutzen, wurde aus Mangel an Mut gar nicht erst unternommen. Kanzler Schröder erklärt, ganz wie sein Vorgänger Kohl, die Gefolgschaft zum Verbündeten USA zum Bestandteil der deutschen Staatsräson. Von da bis zur wilhelminischen Nibelungentreue ist es nur ein kurzer Schritt. Womit wir wieder am Ausgangspunkt der Versailler Verstrickungen angelangt wären.


 
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