© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/98 28. August 1998


Zeitgeschichte und politische Theorie: Karlheinz Weißmann über seine neueste historische Studie, über die Rechte in Deutschland und über einen neuen rechten Stil
"Der nationale Sozialismus war eine genuin linke Idee"
von Peter Krause / Dieter Stein 

Herr Dr. Weißmann, im Herbst wird Ihr neues Buch "Der Nationale Sozialismus" erscheinen. Wie lauten die Thesen Ihrer neuen Studie?

WEISSMANN: Ich versuche darzustellen, wie sich die nationalsozialistische Ideologie ausgebildet hat. Insofern ist das Buch eine Ergänzung zu "Der Weg in den Abgrund". Die Hauptthese, die ich aufstelle, unterscheidet sich von den meisten diskutierten Thesen auf diesem Felde insofern, als bestritten wird, daß es sinnvoll ist, den Nationalsozialismus als eine Variante des Faschismus zu bezeichnen oder den Nationalsozialismus aus dem sogenannten deutschen Sonderweg zu erklären. Natürlich gab es zwischen Nationalsozialismus und Faschismus Beziehungen, natürlich spielten die deutsche Lage am Ende des 19. Jahrhunderts und nach dem Ersten Weltkrieg eine besondere Rolle, aber das kann nicht hinreichend erklären, wieso national-sozialistische Ideologien und Bewegungen in vielen europäischen Ländern entstanden.

Und wie ist das zu erklären?

WEISSMANN: Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine ideologische Bewegung, in der versucht wurde, eine Art "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und dem Konzept der traditionellen Linken zu gehen, und man kann dabei drei wichtige Tendenzen unterscheiden: Erstens den Versuch, den sozialdemokratischen Revisionismus um eine nationale Komponente zu ergänzen. Diese nationalen Sozialisten vertraten die Ansicht, daß es nicht genüge, sich mit dem Parlamentarismus liberaler Prägung zu arrangieren; man müsse einen Schritt weitergehen und die Arbeiterschaft vollständig in den Nationalstaat inkorporieren. Die zweite Tendenz war ein nationaler Sozialismus in der jakobinischen Traditionslinie. Es handelte sich da um eine Strömung, die aus der radikalen Linken kam und mit der Vorstellung sympathisierte, daß die Linke von Haus aus nationalistisch sei und ihr Sozialismus mit dem Republikanismus und Antiparlamentarismus zu einer neuen sozialistisch-nationalistischen Ideologie kombiniert werden müsse. Die dritte Tendenz erwuchs aus einem im weiteren Sinne "organisatorischen" Sozialismusbegriff: Es verbreitet sich auch in Kreisen des Bürgertums die Vorstellung, der Liberalismus sei überlebt, angesichts der engeren Verflechtung und Entwicklung der wirtschaftlichen und technischen Organisation könne der Glaube an den "Nachtwächterstaat" nicht aufrechterhalten werden. Statt dessen müsse man eine effiziente Gesamtorganisation der Gesellschaft erreichen für den darwinistisch verstandenen struggle of life, die als "Sozialismus" bezeichnet wurde. Diese Tendenz hatte stark technokratische Züge und verband sich mit imperialistischen, aber auch mit Rassenvorstellungen.

Und der deutsche Nationalsozialismus zehrte von allen drei Ideologien?

WEISSMANN: Diese drei Komponenten entstanden schon vor dem Ersten Weltkrieg, und der Krieg wirkte als Katalysator. 1918 wird deutlich, daß es nicht nur eine Entscheidung zwischen Wilson und Lenin gibt, also zwischen liberaler Demokratie angelsächsischer Prägung oder Sowjetsystem, sondern eine dritte Option. Mussolini ist einer der ersten, der das begreift und das Programm eines nationalen Sozialismus verficht; Adolf Hitler ist einer der späteren, der aber unter den besonderen Bedingungen der Kriegsniederlage Deutschlands und dann der Krise des parlamentarischen Systems das Konzept auch in besonders radikalem Ausmaße verwirklichen kann.

Ihr Buch zeigt linke Traditionselemente der Rechten in den zwanziger Jahren?

WEISSMANN: Pars pro toto. Man müßte sich zuerst die Frage vorlegen, ob es nach dem Ersten Weltkrieg den ursprünglichen Links-rechts-Dualismus überhaupt noch gab. Die alte Rechte, die Konservativen, die Nationalliberalen, die Alldeutschen, diese Rechte war tot, unfähig, aus sich heraus noch Kräfte zu entwickeln; sie war rein rückwärtsgewandt, hoffte auf eine Revitalisierung der alten Führungsschichten. Die nationalen Sozialisten glaubten dagegen, daß sich die Zukunft gewinnen lasse und daß man das nicht mit den Methoden der Vergangenheit machen könne, sondern durch den direkten Appell an das Volk und durch einen charismatischen Führer oder eine Funktionselite. Das waren moderne Vorstellungen, die hatten mit den traditionell rechten Konzepten nichts mehr zu tun.

Aber das Konzept war auch nicht links?

WEISSMANN: Der nationale Sozialismus teilte eine Reihe von Überzeugungen mit der Linken, aber konnte sich nicht auf der Linken einfinden, weil die Linke den Sozialismus-Begriff ablehnte, der hier herrschte; die National-Sozialisten waren Häretiker der Linken und wurden deshalb von der Orthodoxie mit besonderem Haß verfolgt.

Die Linke geht von der Übereinstimmung ihres ökonomischen und ideologischen Konzepts aus: das Egalitäre, Antikapitalistische soll mit dem Internationalismus übereinstimmen. Ihre These, die einen partikularen Sozialismus beschreibt, greift dieses geschlossene Konzept an?

WEISSMANN: Ja. Es ist schon lange so, daß die Linke die Interpretationsmacht über ihre eigene Geschichte besitzt. Insofern serviert sie ein geschöntes Selbstbild. Aber wenn man sich die konkrete Geschichte der politischen Linken im 19. Jahrhundert anschaut, dann wird man feststellen, daß nicht nur der Nationalismus genuin links war infolge der jakobinischen Tradition, sondern auch der Antisemitismus. Bis auf Saint Simon waren alle einflußreichen Denker der französischen Linken im 19. Jahrhundert Antisemiten. Ihr Antisemitismus resultierte aus dem Jakobinismus und aus der Aufklärung: Voltaire war Antisemit und Rassist. Selbstverständlich will die Linke heute nicht mehr hören, daß der Rassismus, der Antisemitismus und der Nationalismus Teil ihrer Geschichte sind.

Es gibt gegenwärtig eine zögerliche Hinwendung der Linken zu "rechten" Begriffen, etwa zum Nationalstaat. Ist das als eine Rückkehr der Linken zur eigenen Geschichte zu lesen?

WEISSMANN: Die Linke steht heute wieder einmal vor ihrem Kardinalproblem: Wie soll das Gleichheitspostulat konkretisiert werden? Wer soll denn gleich sein? Diese Frage ist in der Theorie überhaupt nicht konkret beantwortet worden und wurde in der Praxis so gelöst, daß man den Wohlfahrtsstaat immer – Internationalismus hin oder her – im Rahmen eines Nationalstaates errichtet hat. Dieses Konzept ist unter den Bedingungen des großen Reichtums im Nachkriegseuropa aufgeweicht worden. Man konnte doch großzügig sein und Sozialleistungen exportieren. Man konnte auch diejenigen, die ins eigene Land kamen und keine Staatsbürger waren, alimentieren. Aber in dem Moment, in dem sich die Mittel verknappen, wird natürlich die Frage wieder virulent: Wer gehört zur Gruppe der Gleichen? Und diese Frage ist von den National-Sozialisten radikal beantwortet worden, entweder bezogen auf eine völkische Gruppe oder in bestimmten Fällen auch auf eine rassische Einheit. Aber das ist nichts, was aus der linken Tradition herausfallen würde.

Andererseits entdeckt die Rechte gegenwärtig die soziale Frage. Verstehen Sie ihr Buch als Beitrag zur Klärung von Begrifflichkeiten?

WEISSMANN: Ich kann keine neue Begrifflichkeit anbieten, aber ich will auch darauf hinweisen, daß wir es mit der Wiederkehr von Problemlagen zu tun haben. Das hängt damit zusammen, daß ein großer Teil der heute sogenannten Rechten nur insofern rechts ist, als man sich angewöhnt hat, Nationalisten als rechts zu bezeichnen. Andere rechte Programmpunkte kann ich bei dieser "Rechten" gar nicht sehen; es ist nicht so, daß sie sich stark machen würde für eine hierarchische Staatsorganisation oder für die Verteidigung kultureller Werte oder das christliche Abendland. Es handelt sich um Bewegungen, die national-sozialer Art sind. Ihr politischer Erfolg erklärt sich daraus, daß die Massen in Zeiten wirtschaftlicher Krisen für bestimmte Programme ansprechbar sind: etwa, der Sozialstaat sei nur zu erhalten unter bestimmten Zugangsbedingungen zu seinen Leistungen, und die müßten enger ausgelegt werden als in der Vergangenheit. Die Gruppe der Gleichen sollte stärker begrenzt werden, und je weniger das gelingt, desto heftiger könnten national-sozialistische Reaktionen ausfallen.

Der Liberalismus bedeutet also nicht das "Ende der Geschichte"?

WEISSMANN: Es ist ja interessant, daß in der Diskussion um Fukuyamas Buch viele Einwände erhoben wurden. Die intelligenteren Kritiker verwiesen darauf, daß die globale Ausweitung des westlichen Wohlstandes wahrscheinlich nicht erreichbar sei; es werde immer Regionen geben, in denen Knappheit herrsche. Und es werde immer einerseits die Begehrlichkeit derjenigen geben, die den Wohlstand nicht besitzen, und die Versuche der anderen, den Wohlstand zu verteidigen. In dem Zusammenhang hat Allan Bloom die These aufgestellt, daß der Faschismus nicht nur eine Vergangenheit habe, sondern vielleicht sogar die Zukunft sei. Was Bloom als Faschismus bezeichnet, würde ich eher als nationalen Sozialismus bezeichnen. Eine ähnliche These stammt übrigens von dem marxistischen Theoretiker Eric Hobsbawm, der die Entstehung von "bonapartistischen" Bewegungen absieht, also von Bewegungen, die sich nur um einen einzigen Programmpunkt hinter einem "Führer" scharen werden zur Verteidigung bestimmter nationaler oder partikularer Belange gegen ein unfähiges parlamentarisches und "plutokratisches" System.

Aber Sie denken nicht an eine Wiederkehr der Geschichte?

WEISSMANN: Der Gedanke an eine Wiedergeburt des alten Nationalsozialismus erscheint mir abwegig. Die Faszination des Totalitären ist in unserer Gesellschaft so geschwächt, daß die Vorstellung von der Unschuld und Schönheit eines totalitären Systems und der damit verbundene Erlösungswunsch kaum Aussicht auf Erfolg haben werden. Man kann aber sagen, daß die Idee eines sozialen Nationalismus im Rahmen eines parlamentarischen Spektrums Chancen haben könnte. Der Grundgedanke ist nicht überlebt.

Ist der nationale Sozialismus "rechts"?

WEISSMANN: Der Nationalsozialismus ist nicht im traditionellen Sinn als rechts zu bezeichnen. Auffälligerweise hatte die alte Rechte in Deutschland gegen den Nationalsozialismus keine Chance. Die Versuche von Historikern, den italienischen Faschismus wie den deutschen Nationalsozialismus als Bündnisse von alten und neuen Eliten zu interpretieren, die ist für die Phase plausibel, in der sich die Regime entwickelten. Aber später waren die nationalsozialistischen Eliten bereit, hemmungslos mit den alten Eliten aufzuräumen.

Vor einigen Jahren ist in Deutschland eine neue intellektuelle Rechte ausgerufen worden, zu deren Protagonisten Sie gehört haben. Diese Rechte hat nicht das gehalten, was sich einige erhofft, was andere befürchtet haben. Woran lag das?

WEISSMANN: An unserer Fehleinschätzung der Lage. Die Neue Rechte war 1989 entstanden aus der Euphorie heraus, historisch im Recht gewesen zu sein. Das hat uns in der Vorstellung bestärkt, wir hätten eine bestimmte geschichtliche Tendenz hinter uns und wären nun mit diesem Anschub fähig, einen Teil der Gegenseite zu uns herüberzuziehen. Das ist nicht geschehen. Eine zweite Hoffnung hat sich auf das Bürgertum gerichtet: wir haben gedacht, es wird die Gunst der Stunde nutzen und sich aus der babylonischen Gefangenschaft durch die Linke befreien, in der es seit 68 steckte. Wir haben die Feigheit des Bürgertums unterschätzt.

Haben Sie nicht auch das eigene Vermögen überschätzt, das "Rechte" im begrifflichen Streit durchsetzen zu können?

WEISSMANN: Da muß man unterscheiden. Mein Buch "Rückruf in die Geschichte" war zum Beispiel eine Art Programmschrift – und ein Gesprächsangebot. Das ist von vielen Linken auch so verstanden, aber zugleich als Versuchung, als Gefährdung betrachtet worden. "Der Weg in den Abgrund" dagegen erschien in einer Zeit, als die Neue Rechte ihren Höhepunkt längst überschritten hatte. Klar war, daß dieses Buch, schon weil ich es geschrieben hatte, mit einem Stigma versehen war. Es war nicht mehr damit zu rechnen, daß es zu einer ernsthaften inhaltlichen Auseinandersetzung kommen würde. Die Linke hatte die Fassung wiedergewonnen. Es gab auch keine Möglichkeit, den Streit zu versachlichen, etwa durch Verzicht auf den Begriff "rechts". Denn mit dem Wort "konservativ" kann man heute keinen Streit mehr entfesseln. Die heutigen "Konservativen" sind so harmlos, daß die Linke sie kaum der Auseinandersetzung wert hält. Der Begriff "konservativ" ist bis auf weiteres ruiniert. Zudem hat der Begriff "rechts" seine Berechtigung; er bezeichnet nicht zuletzt die Differenz zur Mitte. Zwar ging es der Neuen Rechten nicht um eine Art Überflügelungsangriff zusammen mit Linken gegen die Mitte, aber, trotz einer habituellen Nähe zum bürgerlichen Liberalismus, um eine Auseinandersetzung mit der Mitte von rechten Positionen aus.

Was heißt "rechts"?

WEISSMANN: Seit fünfzig Jahren unterscheiden sich Rechte und Nicht-Rechte hierzulande darin, wie sie zur deutschen Geschichte stehen, ob diese 1945 zu Ende war oder nicht. Da stehen Linke und Mitte gerade heute eng beieinander: Auch die Berliner Republik soll sich bloß aus der Nachkriegsentwicklung verstehen. Alles, was vorher war, kommt nur als Mahnung in Betracht.

Wie steht es mit der ökonomischen Frage? Deuten sich nicht wieder Gemeinsamkeiten zwischen rechts und links an, wenn es gegen den globalen Markt geht?

WEISSMANN: Es könnte eine Radikalisierung der Situation eintreten, die zu einer Annäherung von Linken und Rechten in ökonomischen Fragen führt. Aber ich vertrete nicht das Horrorbild des Unternehmers, der sich präventiv als Gobal player versteht, selbst wenn der Horizont der eines mittelständischen Bauunternehmens in Südniedersachsen ist. Es gibt zwar eine liberale Elite, die unter Liberalismus einzig die Entfesselung der Marktkräfte begreift. Aber daneben gibt es Wertliberale, die die Nation für eine Größe ersten Ranges halten. Ich sehe durchaus, daß man rechts und liberal sein kann. Den Einfluß der Linksnationalen dagegegen auf das eigene Lager halte ich für gering. Unter Linken gilt das Wort "Identität" als politisch nicht korrekt. Wer heute eine kollektive Identität verteidigt, der hat sich dort aus dem Kreis der Diskussionswürdigen ausgeschlossen. Da wird selbst die Klassenidentität aufgehoben in diffusen Bewegungen, die irgendwelche Diskurse initiieren.

Woher nehmen Sie Ihren Optimismus, einen Politikbegriff zu vertreten, der sich eng an Geschichte anlehnt? Aus der Schule können sie den Optimismus doch schwerlich mitbringen!

WEISSMANN: Man muß die Existenz des Pädagogen Weißmann schon von der des politischen Menschen Weißmann trennen. Mein Optimismus ist aber durchaus ein pädagogisch motivierter. Meine Erfahrung mit den Heranwachsenden, die ich in den jüngsten fünfzehn Jahren gemacht habe, sind schon so, daß ich zu Pessimismus keinen Anlaß sehe. Die Jugend wächst allerdings unter Bedingungen heran, die ich für problematisch halte. Der Geschichtsverlust zählt dazu. Erziehungsdefizite, Verwahrlosung, Verfall von Anstrengungsbereitschaft, Leistungsfähigkeit: all das wird zu Recht oft beklagt. Die Auswirkungen der "Libido-Revolution" sind offensichtlich, aber man darf nicht unterschätzen, daß Menschen nur bis zu einem bestimmten Grade verbiegbar sind. Das ist eine konservative Überzeugung, die man gelegentlich ins Gedächtnis rufen muß. Der Mensch ist ein Wesen, das manipulierbar, im Kern aber frei für Entscheidungen ist. Die Bereitschaft unter den Jungen, das offene Gespräch zu suchen, ist groß. Im übrigen bin ich der Auffassung, daß Einsicht und kalte Duschen dafür sorgen, daß sich die politische Stimmung bald ändern wird und die vorherrschenden politischen Auffassungen mit ihr.

Sie glauben an eine geistige Wende?

WEISSMANN: Ich glaube nicht an das Eigenleben von politischen Ideen. Es gibt aber bestimmte politische Auffassungen, die Menschen unter bestimmten Bedingungen plausibel erscheinen. Die Erfolglosigkeit der Neuen Rechten war vor allem damit zu erklären, daß diese Bedingungen nicht existierten. Erst wenn sich die Lage erkennbar und unbestreitbar ändert, werden sich die Auffassungen, die vorher nur von wenigen vertreten worden sind, plötzlich bei vielen wiederfinden, auch bei denen, die jene Auffassungen vorher bekämpft haben. Man kann das im Kleinen längst beobachten. Kein ernstzunehmender Mensch würde heute herumlaufen und offen sagen, die Legitimität der DDR war genauso groß wie die der Bundesrepublik. Und das "Schwarzbuch des Kommunismus" wird, das ist absehbar, dazu führen, daß große Kreise der Linken die Ansicht aufgeben, die Toten des GULag seien moralisch nicht auf eine Ebene zu stellen mit den Toten der NS-Vernichtungslager. Keiner wird sich mehr daran erinnern wollen, entsprechende Meinungen 30 Jahre lang vertreten zu haben. Das sind Prozesse im Kleinen, es geht aber um eine umfassendere Revision von Wertvorstellungen, Orientierungen. Durchzusetzen ist diese allerdings nicht ohne eine organisierte Basis. Die Ansicht, man könne nur eine Revolution in den Köpfen durchführen, teile ich nicht.

Ihrer Aufassung von "rechts" liegt eine Anschauung zugrunde, die ein irrationales Fundament hat?

WEISSMANN: Ich bestreite, daß es ein nichtrationales Axiom ist. Ich bestreite nicht, daß mein rationales Axiom Irrationalität einbezieht. Die Akzeptanz irrationaler Elemente, die etwa geschichtsmächtig werden, heißt ja nicht, selber irrational zu sein. Die Argumentation ist rational, wenngleich sie sich auf Momente bezieht, die nicht völlig transparent sind.

Nun könnte ein kritischer Geist fragen: "Warum die Nation? Es gibt andere irrationale Seinsweisen, andere irrationale Identitäten!"

WEISSMANN: Zunächst: Es gibt auch vernünftige Gründe für die Nation. Aber sie sind nicht ausschlaggebend. Ich folge Max Weber: Das nationale Bewußtsein ist ein "spezifisches Pathos". Es gibt keine identitätsstiftende Größe von vergleichbarer Attraktivität. Die ins Feld geführten Alternativen, etwa eine regionale Identität, eine Heimatidentität – die sind unpolitisch. Es geht aber um politische Identitäten. Die Alternative, die zur nationalen exisitiert, ist eine imperiale. Es gibt etwa unter den Eurokraten nicht wenige, die sich bereits als Herren eines zukünftigen imperium europaeum betrachten. Viele von ihnen begeistern sich für Europa, weil sie von den neuen Machtmöglichkeiten fasziniert sind. Sie glauben, das emotionale Unterfutter werde sich von allein einstellen. Aber die Nationen sind viel älter, haben eine ganz andere Wirkmächtigkeit. Doch kann ich niemanden für die Nation begeistern, wenn ihn das spezifische Pathos schlicht nicht anspricht.

Nun ist das "Rechte" aufgrund seiner irrationalen Momente nicht vollständig argumentativ plausibel zu machen. Ist das Scheitern im "Diskurs" mit der rationalistischen Linken nicht zwangsläufig?

WEISSMANN: Es ist ein kardinales Problem, daß die Rechte gezwungen ist, etwas argumentierend vorzutragen, was eigentlich nur gelebt werden kann. Aber dieses Dilemma gibt es seit 200 Jahren. Wir müssen etwas über den Kopf zu vermitteln suchen, was sich entweder von selbst versteht oder kaum versteht. Ich bin aber durchaus in der Lage, mir einen Zustand vorzustellen, wo die Notwendigkeit von unserer Seite, alles zu begründen, nicht mehr bestehen wird.

Sehen Sie einen neuen konservativen, einen rechten Stil?

WEISSMANN: Noch vor Jahren tanzten die Rechten entweder Volkstanz oder sie lasen Carl Schmitt. Das hat sich verändert. Es gibt eine starke Revitalisierung des rechten Milieus als Einheit von Geist und Form. Daß es einen neuen rechten Stil geben wird, liegt auch darin begründet, daß es heute immer weniger "geborene Rechte" gibt. Heute sind die "gelernten Rechten", die aus Ablehnung und Ekel gegen die herrschende Mentalität nach rechts gehen, längst in der Mehrheit; und die neuen Rechten übernehmen zwar viel, oft Überraschendes aus der Tradition, aber nicht alles. Sie suchen einen neuen Gestus.

Gibt es nicht eine Differenz zwischen alter und neuer Rechter insofern, als die neue Rechte durch die Moderne hindurchgegangen ist?

WEISSMANN: Die neue Rechte ist insofern alt, als ihre "postmodernen" Gedanken sich teilweise in der Konservativen Revolution finden. Deren Revolte gegen die Moderne setzte die Akzeptanz der Moderne voraus. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt es vier rechte Denkfamilien in Europa: Erstens eine resignative, die sagt, man muß den Untergang all dessen, was uns etwas wert war, unweigerlich hinnehmen. Zweitens eine revolutionäre, die annimmt, man könne einen völligen und radikalen Umsturz des bestehenden Systems erreichen: religiös, kulturell, politisch. Drittens eine restaurative Bewegung, die an die Traditionen ungebrochen anknüpfen will; und viertens eine regenerative Denkströmung. Diese regenerative Schule ist der Meinung, daß es bestimmte Traditionsbestände gibt, die aus der Vormoderne gerettet werden und unter den modernen Bedingungen weiterleben sollen. Es geht um eine neue Synthese. Heute sind die restaurative und die resignative Rechte erledigt, es wird um ein revolutionäres oder ein regeneratives rechtes Denken gehen.


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