© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/24-01/25 / 20.-27. Dezember 2024

Beginn einer jahrzehntelangen Odyssee
Vor 45 Jahren erschütterte der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan den Weihnachtsfrieden
Albrecht Rothacher

Afghanistan war stets eine friedlose, allen fremden Einflüsse feindlich gesonnene und innerlich zerrissene Weltregion, die gleichzeitig seit Alexander dem Großen und Babur, dem Gründer des turkstämmigen Mogulenreiches, das von ihm 1526 genutzte einzige kontinentale Einfallstor nach Indien darstellte. So war jenes unwirtliche Niemandsland auch im 19. Jahrhundert zwischen dem Russischen Reich, das sich nach seiner Niederlage im Krimkrieg (1853–1856) Kolonien in Zentralasien sicherte, und den Briten, die ihre gesetzlose Nordwest-Grenze zu Britisch-Indien sichern wollten, Schauplatz intensiver imperialer Rivalitäten, dem berühmten „Great Game“ von Geheimdienstlern und Abenteurern. Zweimal versuchten die Briten 1839 und 1879 mit Hilfe von Besatzungstruppen ihnen genehme Herrscher in einem Protektorat Afghanistan durchzusetzen. Nachdem sie glaubten, in dem scheinbar befriedeten Land ihre „Subventions“-Zahlungen an örtliche Stammesführer einstellen zu können, wurden sie bei überraschenden Aufständen mit 16.000 bzw. 35.000 Toten bis zum letzten Mann, nebst Frauen und Kindern niedergemetzelt. 

So lassen die Afghanen die Invasoren, ebenso wie die Sowjets 1979 und die Amerikaner 2001 fast kampflos ins Land. Bleiben sie zu lange, wie die Sowjets bis 1989 und die Amerikaner bis 2021, entlädt sich der Haß auf alles Fremde in einem gnadenlosen Krieg, vor allem von seiten des relativ größten Stammesverbandes der Paschtunen, die den Süden und Osten besiedeln und die sich als das natürliche Herrschervolk Afghanistans empfinden.

Heute kaum vorstellbar, war Afghanistan in den 1960er Jahren ein Sehnsuchtsland der Hippies, die dort auf dem Weg nach Indien mit ihren VW-Bully oder 2CV-„Enten“ Rast machten, Haschisch rauchten oder mit Opiaten experimentierten. Damals wollte König Mohammed Zahir das Land modernisieren, gab ihm eine demokratische Verfassung mit dem Wahlrecht für Frauen, die im Minirock in Kabul auch unbehelligt Tanzcafés und Kinos besuchen konnten. Im Kalten Krieg blieb Afghanistan neutral und nahm Gelder von beiden Seiten. Die Armee trug ausgemusterte Stahlhelme der Wehrmacht.

Doch 1973 putschte Mohammed Zahirs sowjetisch unterstützter Bruder Mohammed Daoud Khan, der eine brutale Schreckensherrschaft errichtete und schließlich von Kommunisten wie Islamisten bekämpft wurde. In der Saur-Revolution im Jahr 1978 wurden er und seine Familie von den Kommunisten unter Nur Muhammad Taraki und seiner kommunistischen Demokratischen Volkspartei gestürzt und hingerichtet. Diese wollen in dem rückständigen Agrarstaat nach sowjetischem Vorbild und mit sowjetischer Unterstützung eine kommunistische Diktatur errichten, enteigneten und töteten Tausende Großgrundbesitzer und Kleriker. 

Als Feudalherren und Islamisten immer erfolgreicher Widerstand leisten, schickt die Sowjetführung unter Staats- und Parteichef Leonid Breschnew zu Weihnachten 1979 die Rote Armee ins Land. Seine Motive waren in jener Zeit des Niedergangs der Ost-West-Entspannung sowohl defensiv: die Furcht vor einer Ausbreitung der islamischen Revolution im Iran über Afghanistan in die muslimischen Sowjetrepubliken, als auch offensiv strategisch: die Sicherung der neuen Einflußsphäre sowie ein näherer Zugriff zum Indischen Ozean. So rücken „zur Sicherung der südlichen Grenze“ Panzerkolonnen von Usbekistan und Tadschikistan ein, Luftlandetruppen besetzen Kabul. Insgesamt 40.000 Mann. Erwartet wurde von Leonid Breschnew ein Blitzkrieg von zwei Wochen, der bald auf drei Monate verlängert wurde. Der afghanische Parteichef Babrak Karmal hatte aus dem Exil um die „brüderliche Hilfe“ der Sowjetunion gebeten, die schon vorher Techniker und Militärberater geschickt, Straßen und Schulen gebaut hatte. Bald standen 85.000 sowjetische Soldaten im Land. Bis 1988 sollten es 115.000 Mann werden. Als sich der amtierende Staatschef Hafizullah Amin bei der Invasion renitent zeigt, wird auch er in Kabul am 27. Dezember 1979 von einem Speznaz- Kommando liquidiert (Operation Storm-333), um die mörderischen Streitereien unter den einheimischen Kommunisten zu beenden.

US-Unterstützung sollte „den Sowjets ihr Vietnam bescheren“

Ein Stellvertreterkrieg begann. Auf der anderen Seite standen die ungleichen Partner USA, China, Saudi-Arabien, Pakistan, Ägypten und Israel. Sie unterstützten die sunnitischen Milizen mit Geld und Waffen, die vom pakistanischen Geheimdienst und der CIA koordiniert wurden. Die USA allein leisteten sechs Milliarden US-Dollar als Militärhilfe. Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, sah die Chance gekommen, „den Sowjets ihr Vietnam zu bescheren“. In Flüchtlingslagern wurden islamische Kämpfer auch aus Arabien ausgebildet und als Mudschaheddin ins Land geschleust, darunter auch ein gewisser Osama bin Laden. 

Eine besondere Spezialität waren die schulterbare US-amerikanische Fliegerfaust Stinger und Blowpipe-Raketen, mit denen sowjetische „Hind“- Kampfhubschrauber unschwer abgeschossen werden konnten, deren überlebende Besatzungen danach oft brutal massakriert wurden. Damit verloren die Sowjets bald ihre Lufthoheit und kontrollieren nur noch die Überlandstraßen und die Städte. Die Sowjets erleben einen unsichtbaren Feind und leben ihre Frustration, wie viele Soldaten im Guerillakrieg, mit Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung aus. Gefangene werden auf beiden Seiten selten gemacht und wenn, dann werden sie grausam abgeschlachtet. Dazu kommt die ideologische Zersetzung im Blick auf die vielen in der Sowjetunion völlig unbekannten West- und Asienprodukte, die auf den Basaren jenes Entwicklungslandes feilgeboten werden.

Nachdem Michail Gorbatschow, der im April 1985 Generalsekretär der KPdSU geworden war, den Krieg als nicht gewinnbar erkannt und versprochen hatte, die „blutende Wunde“ zu schließen, ziehen im Februar 1989 die geschlagenen Sowjets über die „Brücke der Freundschaft“ nach Usbekistan ab. Ihr letzter einheimischer Statthalter, Muhammed Nadschibullah, flüchtet sich in die Uno-Mission, wird dort herausgezerrt, gefoltert und zusammen mit seinem Bruder an einer Plattform für die Verkehrspolizei in Kabul aufgeknüpft. Mindestens 15.000 sowjetische Soldaten (oder möglicherweise doppelt so viele) waren in Afghanistan gefallen und kehrten als „Zinkjungen“ in versiegelten Zinksärgen heim, die von den Angehörigen nicht bestattet werden durften. Viele sowjetische Kämpfer wurden zudem aus den nichtrussichen Sowjetrepubliken rekrutiert, was im Baltikum und im Kaukasus die pro-sowjetische Stimmung zusätzlich verschlechterte. Hunderttausende, ähnlich wie die US-Veteranen in Vietnam, waren als „Afgantsy“ durch den Krieg traumatisiert, oft den einheimischen Drogen verfallen, brutalisiert und in jedem Fall von den Lügen der Partei- und Militärführung gründlich desillusioniert. Niemand interessierte sich für ihr Schicksal, denn sie konnten keine Heldensagen „aus der fremden Wüste“ erzählen. Nur die Generäle Alexander Ruzkoi und Alexander Lebed machten als kernige Offiziere danach kurzzeitig politische Karriere. 

Neben dem westlichen Boykott der Olympischen Spiele in Moskau im Juli 1980 hat der Krieg in Afghanistan die Sowjets 85 Milliarden US-Dollar gekostet und damit den Bankrott der maroden Volkswirtschaft weiter befördert. Auch der Nimbus der unbesiegbaren Roten Armee war nach diesem Abnutzungskrieg dahin. Die sowjetische Führung konnte sich angesichts ihres Versagens und ihrer Niederlage nicht mehr glaubwürdig mit dem Propagandamythos des Zweiten Weltkriegs legitimieren. Zwei Jahre später waren sie und die Sowjetunion Geschichte.

Mehr als eine Million Afghanen starben während der zehnjährigen sowjetischen Okkupation. Nach dem Abzug der Sowjets beginnt in dem zerstörten Staatswesen ein Bürgerkrieg der Milizen der korrupten Mudschaheddin-Führer und ihrer Stammesfürsten. Ohnehin hatte die zerstrittene islamische Sieben-Parteien-Koalition von 1989 als „Gegenregierung“ im pakistanischen Peschawar nur das US-amerikanische und saudische Geld und die Aussicht auf Beute von den gottlosen Sowjets zusammengehalten. 

Heillos zerstrittene Sieger wurden 1996 von den Taliban abgelöst

Gegen diese selbstzerstörerischen Kriegsherren profilieren sich während der neunziger Jahre die vom pakistanischen Geheimdienst unterstützten puristischen „Koran-Schüler“ der Taliban als Ordnungsmacht. Es gelingt ihnen, im Osten und Westen die „Warlords“ zu besiegen und anschließend schnell das ganze Land aufzurollen, wo sie in Kürze 1996 eine neue Terrorherrschaft als Gottesstaat errichten, diesmal auf Kosten der Frauen und Mädchen, die sie fast sämtlich unter Hausarrest stellen, und der schiitischen Minderheit mongolischen Ursprungs der Hazara in Zentralafghanistan, die sie als ungläubige Ketzer grausam verfolgen. 

Da die Taliban den Fehler machten, al-Qaida Unterschlupf zu gewähren, wurden sie von den USA bei ihrem Rachefeldzug nach dem 11. September 2001 im Bündnis mit den nördlichen Warlords der Usbeken und Tadschiken binnen weniger Wochen niedergeschlagen. Das milliardenteure „nation-building“, das während einer fast zwanzigjährigen Besatzung pro-westlicher Truppen folgte, traf auf eine zunehmend ablehnende, traditionsverhaftete Stammesgesellschaft, die ihren Widerstand immer weiter steigerte. 

Wiederum wiederholte sich die Geschichte einmal mehr. 2021 mußten US-Amerikaner und ihre Verbündeten fluchtartig vor den siegreichen Taliban das Land verlassen, darunter auch letzte Bundeswehrsoldaten, die laut Aussage des damaligen SPD-Verteidiungsministers Peter Struck von 2004 angetreten waren, „die deutsche Sicherheit am Hindukusch zu verteidigen“. Im Verlauf jenes rot-grün beschlossenen Kriegseinsatzes, der auch von seinen christdemokratischen Nachfolgern nicht beendet wurde, opferten 59 tapfere deutsche Soldaten ihr Leben.