© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/24-01/25 / 20.-27. Dezember 2024

Wanderer über dem Nebelmeer
Caspar David Friedrich II: Zu Frank Richters monumentaler Arbeit über den bedeutendsten Maler der deutschen Romantik
Wolfgang Müller

Mit einem kiloschweren Band im Atlasformat, der auf 500 Seiten mit mehr als 1.700 Abbildungen einen Augenschmaus sondergleichen kredenzt, schließt Frank Richter den  munteren Publikationsreigen des Friedrich-Jahres 2024 ab. Dieses monumentale Werk unterscheidet sich jedoch nicht allein wegen seiner Opulenz von den auch nicht gerade schlanken Bänden, die zu den vier Caspar-David-Friedrich-Schauen des Jubiläumsjahres in Hamburg, Berlin, Dresden und Weimar erschienen sind. Denn anders als diese wuchtigen Ausstellungsbegleiter, die jeweils als Teamwork von Kunsthistorikern entstanden sind, stemmte Richter seine Herkulesarbeit über den bedeutendsten Maler der deutschen Romantik nicht nur als Einzelkämpfer, sondern auch als ein nicht zum kunstwissenschaftlichen Establishment zählender  Außenseiter.

Dreißig Jahre lang forschte der Autor auf Friedrichs Spuren 

Von Haus aus war der passionierte Fotograf lange zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit im Nationalpark Sächsische Schweiz. Dorthin, wo Friedrich nach dem Wechsel von Greifswald nach Dresden seine ersten Landschaftsstudien begann, begab sich der Autodidakt Richter Mitte der 1990er, um zunächst die Motive des Zeichners, dann die des Malers Friedrich exakt zu lokalisieren. Danach durchforstete er alle Landschaften, in denen Friedrich auf seinen „Kunstwanderungen“ unterwegs war, das schlesische Riesengebirge, die Kegelberge des Böhmischen Mittelgebirges, den Harz, die mecklenburgisch-vorpommersche Tiefebene und natürlich die Insel Rügen, die zwischen 1801 und 1826 siebenmal Ziel zum Teil ausgedehnter Exkursionen wurde. Entsprechend vorbildhaft ist sein Anhang (Ausgewählte Literatur, Personen, Orte, Reisen und Kunstwanderungen, biographische Daten)

Ganz auf sich allein gestellt war Richter freilich nicht. Während seiner dreißigjährigen Recherche konnte er sich stets auf die Unterstützung einer stattlichen Reihe von Friedrich-Forschern verlassen. Unter ihnen zuvörderst der Dresdner Pfarrer Karl-Ludwig Hoch (1929–2015) und der ehemaligen Kustos der Dresdner Gemäldegalerie Neue Meister, Hans Joachim Neidhart (1925–2024), der wohl beste Kenner der Malerei der Romantik in Elbflorenz. Die Idee ist zudem nicht neu, sich an Friedrichs Fersen zu heften, in akribischer Suche jedes seiner Motive topographisch exakt zu verorten, jede Perspektive zu prüfen und fotografisch zu dokumentieren, dabei die heutige Kulturlandschaft mit ihrem Zustand vergleichend, wie ihn der Betrachter um 1800 erblickte. 

Karl-Ludwig Hoch ist Richter methodisch mit zwei schmalen Bildbänden über Friedrichs Kletterpartien in der nordböhmischen Gebirgslandschaft (1987) und in der Sächsischen Schweiz (1995) vorangegangen, sekundiert vom Defa-Regisseur Herrmann Zschoche, einem ebenso passionierten Friedrich-Forscher, der sich den Rügen-Reisen (1998) und dem einzigen Harz-Aufenthalt des Meisters gewidmet hat (2000). Vor Hoch und Zschoche handelte bereits der Breslauer Kunsthistoriker Günther Grundmann (1892–1976) eines der von Friedrich mit religiöser Inbrunst empfundenen „Bergerlebnisse“ im Rahmen seiner Monographie über „Das Riesengebirge in der Malerei der Romantik“ (1965) ab. Und Richter selbst trat auf diesem Feld nicht wie Kai aus der Kiste auf den Plan. Im Anschluß an eine Studie über den Friedrich-Freund Carl Gustav Carus (2009) veröffentlichte er schon zwei umfangreiche Kapitel seines nunmehrigen Opus magnum, das über die Sächsische Schweiz und das Dresdner Umland sowie jenes über das Riesengebirge. 

Jeden Rezensenten dürfte Richters schier überwältigende Materialfülle vor ein Problem stellen, das Marilyn Monroe alias Sugar Kowalczyk in Billy Wilders Komödie „Some Like It Hot“ („Manche mögen’s heiß“) mit Blick auf das meterlange Präparat eines Thunfisches so formuliert: „Wie kommen so große Fische in so kleine Dosen?“ Indem man sie in kleinste Portionen schneidet. Was übersetzt für die Besprechung solcher Riesenwerke heißt, sich auf Stichproben zu beschränken, um den Gehalt und Wert des Ganzen wenigstens anzudeuten. 

Richter nennt einleitend zwei Erkenntnisziele seiner langwierigen detektivischen Sondierungen: die präzise Lokalisierung der Bildmotive aller Zeichnungen und Ölgemälde Friedrichs sowie die Beantwortung der Frage, aus welchen Bildelementen der Künstler seine Sinnbilder zusammenfügt. Denn der Landschaftsmaler Friedrich malt nicht in der Natur, er entnimmt ihr lediglich die zeichnerischen Vorlagen für seine ausschließlich im Atelier produzierten Gemälde. Da er dabei vielfach einzelne Versatzstücke wie Kirchtürme, Häuser,  Bäume, Felsen oder Wolken, die aus verschiedenen Schaffensperioden stammen, kombiniert, ist die Rekonstruktion seiner Arbeitsweise mittels Vergleich zwischen Bildmotiv und Naturvorbild oft schwierig. Überdies muß Richter einräumen, daß der dabei von ihm getriebene Aufwand nicht eigentlich dem Kerngeschäft des Kunsthistorikers, der entschlüsselnden Interpretation der Bilder-Botschaften, zugute komme. 

Erst ein Zufall, die Veröffentlichung der ersten umfassenden, quellensatten Biographie, 179 Jahre nach Friedrichs Tod, verschafft jetzt dem Unternehmen Richters größere wissenschaftliche Bedeutung. Auch hier war es wieder ein Außenseiter, der Neubrandenburger Journalist Detlef Stapf, der leistete, was die Zunft so lange versäumte. Trotzdem stieß sein Buch bei Richter und renommierten Friedrich-Experten wie Johannes Grave (Jena) und Christian Scholl (Göttingen) sowie dem Kunsthistoriker und Bestsellerautor Florian Illies nicht auf Dankbarkeit, sondern wegen zahlreicher falscher Lokalisierungen und Zuschreibungen auf heftige Kritik. Von einer lokalpatriotisch motivierten „Neubrandenburgisierung“, von einer Verwirrung der Biographie Friedrichs und der Werkgenese ist in einem 2023 im Netz publizierten Brandbrief zu den höchst „problematischen Thesen“ des Journalisten die Rede. Diese untermauert Stapf in einer ebenfalls 2019 erschienenen Monographie über den Neubrandenburger Theologen Franz Christian Boll. 

Boll (1776–1818) rückt darin zu einer bislang von der Forschung ignorierten Schlüsselgestalt von Friedrichs Œuvre auf, zum weltanschaulichen Ideengeber, den der dankbare Maler als ikonische Rückenfigur in „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ (1817/18) und in „Kreidefelsen auf Rügen“ (um 1818) verewigt haben soll. Für Richter ist keine diese Behauptungen bewiesen, im Gegenteil, und hierin wie in der souveränen Korrektur anderer spekulativer Zuschreibungen und „gröbster Fehler“ Stapfs sieht er zu Recht einen besonderen Wert seiner Vergleichsmethode.

Ob es den Genuß der Kunstwerke erhöht, wenn der Betrachter weiß, wo ihr Ort im „wirklichen Leben“ war oder welche Personen historisch eindeutig identifizierbar sind, wagt selbst der unermüdliche Spurensucher Frank Richter zu bezweifeln. Denn letztlich bewegten uns Friedrichs Bilder, auch wenn „manche rätselhaft bleiben und die Rückenfiguren ihre Geheimnisse nicht preisgeben wollen. Es ist wie mit der Musik. Sie spricht unsere Herzen an, auch wenn wir keine Noten lesen können.“

Bilder: Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer, Öl auf Leinwand, um 1817/18: Das Bild gilt heute als Inbegriff der Romantik. Bis Anfang Januar 2025 ist es noch in der Dresdner Ausstellung „Wo alles begann“ zu  sehen (siehe nebenstehenden Beitrag). Danach wird es im New Yorker Metropolitan Museum ausgestellt, bevor es wieder an seinen Platz in der Hamburger Kunsthalle zurückkehrt.

Gerhard von Kügelgen, Der Maler Caspar David Friedrich, Öl auf Leinwand, um 1818 (r.), und „Kreidefelsen auf Rügen“, Öl auf Leinwand, um 1818, eines von Friedrichs Hauptwerken

Frank Richter: Caspar David Friedrich. Der Landschaftsmaler.Michael Imhof Verlag, Petersberg 2024, gebunden, 544 Seiten, 1.760 Abbildungen, 99 Euro