© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/24-01/25 / 20.-27. Dezember 2024

Wandern durch der Welt Wildnis
Kino I: In „Freud – Jenseits des Glaubens“ treffen Wiener Psychoanalyse und „Narnia“-Frömmigkeit aufeinander
Dietmar Mehrens

Kurz vor seinem Freitod im Londoner Exil traf sich Sigmund Freud, so ist es überliefert, mit einem bedeutenden britischen Gelehrten. War es C. S. Lewis (1898–1963), der berühmte Literaturwissenschaftler, christliche Apologet und Autor der „Chroniken von Narnia“ (Porträt in JF 48/23)? Das ist reine Spekulation, aber eine, die der Bühnenautor Mark St. Germain so verführerisch fand, daß er sie zum Gegenstand eines Theaterstücks mit dem Titel „Freud’s Last Session“ machte. Die Verfilmung des Stoffes kommt jetzt in die deutschen Kinos – 19 Jahre nach dem monumentalen Fantasy-Abenteuer „Der König von Narnia“, einer Adaption von Lewis’ gleichnamigem Kinderbuch.

Lewis hält sich an die Bibel, Freud an Morphium

Am Anfang ist eine Reichstagsrede von Adolf Hitler zu hören. Sie hilft bei der historischen Einordnung des Stoffes, den St. Germain gemeinsam mit Regisseur Matthew Brown für die Leinwand adaptierte. Ihr Film spielt im September 1939, wenige Tage nach dem Angriff von Hitler-Deutschland auf Polen. In London, wo Sigmund Freud (Anthony Hopkins) mit seiner Tochter Anna (Liv Lisa Fries) Zuflucht vor den Repressalien des NS-Regimes gefunden hat, empfängt der berühmte Wiener Nervenarzt prominenten Besuch: Der theologisch versierte Denker Clive S. Lewis (Matthew Goode) ist für einen Gedankenaustausch eigens aus Oxford angereist. Es gibt einen Grund dafür: Eine Figur in Lewis’ Buch „The Pilgrim’s Regress“ (dt. „Flucht aus Puritanien“) ist offenbar als wenig schmeichelhafte Karikatur auf den Wiener Psychoanalytiker und Religionsskeptiker angelegt.

Es kommt zu einer Auseinandersetzung auf hohem akademischen Niveau zwischen dem Philologen, den sein Freund J. R. R. Tolkien einst zum Glauben bekehrte, und dem Gottleugner, der Glaubensinhalte pauschal als „Kirchenpropaganda“ abtut. Christen glauben doch nur an Mythen und Gespinste, ist die jüdische Koryphäe der Nervenheilkunde überzeugt. „Der Wunsch, zu glauben, daß es keinen Gott gibt, kann genauso stark sein wie der Glaube an Gott“, kontert der Literat aus Oxford.

In einer Nebenhandlung geht es um die neurotisch anmutende Abhängigkeit von Freuds Tochter Anna von ihrem weltberühmten Vater. Anna hält als Mitglied der Psychoanalytischen Gesellschaft in England Vorlesungen, ist also selbst eine anerkannte Forscherin, ihrem Vater jedoch bedingungslos ergeben – ein wandelnder Beweis für Freuds noch heute beachtete Theorien zu frühkindlichen Prägungen, Prädispositionen und Urängsten, die der Film mit dunklen, mystischen Bildern illustriert. 

In kurzen Rückblenden wirft das Doppelporträt einen Blick auf Lewis’ traumatische Erlebnisse in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs sowie auf die frühkindliche Prägephase des kleinen Sigmund: sein katholisches Kindermädchen und seinen streng orthodox-jüdischen Vater. Das Vermächtnis des großen Entmystifizierers an die Nachwelt lautet: „Werdet erwachsen!“ Leid sei sinnlos und müsse, so der selbst unheilbar an Gaumenkrebs Erkrankte, einfach ertragen werden. Sein Gegenüber ist dagegen überzeugt: Nicht Gott fügt Menschen Leid zu, sondern Menschen, die nicht an Gott glauben. In ethischen Streitfragen zu Krankheit, Sexualität und selbstbestimmtem Sterben, die heute alle im Sinne Freuds entschieden scheinen, hält C. S. Lewis unbeirrbar an den Leitlinien der Bibel fest. Freud hält sich lieber an Morphium.

Allein daß es überhaupt eine kritische Stimme zum Thema Homosexualität in ein zeitgenössisches Leinwandwerk schafft, ohne desavouiert zu werden, hebt „Freud – Jenseits des Glaubens“ aus dem Durchschnitt des gegenwärtigen Filmschaffens heraus. Wieder einmal meisterlich ist die darstellerische Leistung von Anthony Hopkins, der C. S. Lewis in „Shadowlands“ (1993) noch selbst verkörpert hatte und jetzt mit seinem Widersacher, dem genialen Dr. Freud, gleichsam verschmilzt.

Ein Satz aus der für Lewis wegweisenden Erbauungsdichtung „Pilgerreise zur seligen Ewigkeit“ von John Bunyan (1628–1688), in dem es um das Wandern durch die Wildnis der Welt geht, dient dem Leinwanddrama als Leitmotiv. In seinem 1933 erschienenen Prosawerk „The Pilgrim’s Regress“ hatte Lewis darauf Bezug genommen. Obwohl in grundsätzlichen philosophischen Fragen unterschiedlicher Ansicht, hatten die beiden scharfsinnigen Denker aus St. Germains Sicht auch Gemeinsames: die Lektüre des Klassikers von John Bunyan und die Begeisterung für die düster-lockende Welt des Waldes.

Die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern, sei ein Beweis für geistige Gesundheit, sagt Liv Lisa Fries in der Rolle der Anna Freud in einer der ersten Szenen dieses wunderbaren Plädoyers für Austausch über Konfliktlinien hinweg. Es klingt wie ein Appell des US-Dramatikers an die polarisierten Gesellschaften des Westens, mit Hochachtung für andere Meinungen durchs Leben zu gehen und nicht mit aufgesteckten Gedankenbajonetten. Diese Hochachtung leben Freud und Lewis mustergültig vor und machen diesen Film damit zur schönsten Bescherung im vorweihnachtlichen Kinosaal.

Kinostart ist am 19. Dezember 2024

Foto: Sigmund Freud (Anthony Hopkins, r.)disputiert mit dem Autor C. S. Lewis (Matthew Goode): Doppelporträt