Während die seinerzeit verbreitete „Musikgeschichte in 100 Lebensbildern“ von Hans Joachim Moser noch Ende der 1950er Jahre Peter Cornelius zu den hundert bedeutendsten Komponisten überhaupt zählt, ist es heute sehr still um diesen feinsinnigen Meister geworden. Viel gespielt war bis in die 1980er Jahre sein „Barbier von Bagdad“ (1858), eines der gewichtigsten Werke der nicht allzu umfangreichen Reihe deutscher komischer Opern und wahrscheinlich die späteste Schöpfung der Gattung der sogenannten „Türkenopern“.
Cornelius, der ein Neffe des in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannten gleichnamigen Malers war, kam am 24. Dezember 1824 in Mainz in einer Schauspielerfamilie zur Welt und begann seine Laufbahn auf der Sprechbühne. Dann studierte er von 1845 an vier Jahre bei Siegfried Dehn in Berlin Komposition, lernte Franz Liszt kennen und folgte diesem 1852 als eine Art künstlerischer Sekretär nach Weimar, damals Zentrum der sogenannten „Neudeutschen“ in der Musik. Liszt war Hofkapellmeister in Weimar.
Die Uraufführung des „Barbier“ am 15. Dezember 1858 geriet zu einem der größten Theaterskandale, wobei das Fiasko nicht das Werk betraf, sondern man über den Komponisten den Mentor Franz Liszt schmähen wollte, der damals als Führer der musikalisch „Fortschrittlichen“ viele Feinde hatte. Liszt gab danach seine Stellung auf, Cornelius siedelte nach Wien über, wo er einige Jahre in bitterer Armut lebte. Dort lernte er Richard Wagner kennen, dort entstand seine zweite Oper, „Der Cid“ (nach dem Schauspiel von Pierre Corneille). Cornelius folgte Wagner 1864 nach München, die Aufführung dieser Oper im folgenden Jahr in Weimar gestaltete sich zu einem Triumph für den Komponisten. Wagner hatte übrigens Cornelius in München eine Art „partnerschaftliches Zusammenleben“ vorgeschlagen – bis heute halten sich Ansichten, nach denen beide für kurze Zeit ein homoerotisches Verhältnis hatten.
Von hoher melodischer Schönheit sind seine sechs Weihnachtslieder
Seine finanzielle Situation festigte sich, nachdem er 1867 eine Stelle als Professor an der Königlichen Musikschule erhielt und heiraten konnte. Kurz vor seinem 50. Geburtstag starb er während eines Besuchs in seiner Geburtsstadt Mainz an den Folgen von „Zuckerharnruhr“, wie damals Diabetes mellitus bezeichnet wurde. Eine dritte Oper, „Gunlöd“ (nach der Edda), blieb unvollendet.
Cornelius schuf fast ausschließlich Vokalmusik (Opern, zahlreiche Klavierlieder und Chöre), reine Instrumentalwerke existieren bis auf einige unbedeutende Streichquartette aus seiner Studienzeit in seinem Œuvre nicht. Er sah sich selbst als „Dichterkomponist“ (wie es Wagner und, nicht zu vergessen, auch Lortzing waren) und schrieb die Texte für seine drei Opern, für die meisten der Lieder wie auch der Chöre selbst. Allerdings gelang es ihm, sich von Wagner stilistisch völlig frei zu halten, was überrascht, wenn man an die langjährige Nähe der beiden denkt. Sein Werkkanon ist nicht umfangreich, neben den drei Opern existieren knapp hundert Klavierlieder und etwa 40 meist kurze A-cappella-Chöre. Alles zusammen fände auf elf bis zwölf CDs Platz.
Cornelius ist eine vor allem lyrische Natur, wie der ihm wesensverwandte früh gestorbene und ziemlich vergessene Königsberger Hermann Goetz (1840–1876), dessen „Der Widerspenstigen Zähmung“ (1874) ebenso eine Perle der deutschen komischen Oper und ebenso negiert. Auch Goetz wird im erwähnten Werk von Hans Joachim Moser zu den hundert bedeutendsten Komponisten der Musikgeschichte gezählt. Als Liederkomponist steht Cornelius dichterisch wie musikalisch auf gleicher Höhe und realisiert die Einheit von Wort und Ton; alles ist dem Sprachklang verbunden, wobei sich die Gesangsstimmen oft dem Rezitativ annähern.
Von hoher melodischer Schönheit sind seine zwischen 1856 und 1870 entstandenen sechs „Weihnachtslieder“, op. 8, die als einziges von Cornelius’ Lied-Opera eine gewisse Bekanntheit aufweisen und als Zyklus noch vergleichsweise oft vorgetragen werden. Populär sind vor allem „Die Hirten“ und „Die Könige“, die auch als Einzelgesänge vorgetragen werden. „Fließende Chromatik ist ihm wesensfremd, von Natur aus Diatoniker, stellt er Akkorde wie Farbwerte nebeneinander“, so Werner Oehlmann in „Reclams Liedführer“. Und diese Akkordik ist – wie es die Harmonik insbesondere des „Barbier von Bagdad“ zeigt, oft durchaus dissonant, fügt sich aber in paradoxer Weise „wohlklingend“ in den musikalischen Ablauf.
Diese entzückende Spieloper handelt von einer Liebesgeschichte, die durch die übergroße Anteilnahme eines geschwätzigen alten Barbiers erst gestört, dann aber zum guten Ende gebracht wird. Leider stehen der Ort des Geschehens und die (im übrigen nie karikaturenhaft dargestellten) Muslime, die die Handlung bevölkern, sowie die annähernd authentischen Muezzin-Rufe heutzutage einer szenischen Realisierung auf einer Bühne entgegen. Denn seit Mozarts „Entführung“ und Webers „Abu Hassan“ gab es keine kunstvollere und melodisch so blühende deutsche „Türkenoper“.
Nur war der Oper zu Lebzeiten des Komponisten und auch danach kein Erfolg beschieden. Auf Betreiben Liszts schuf Felix Mottl 1884 eine Bearbeitung mit Orchesterretuschen und Kürzungen (mit dem Unikum der Orchestrierung einer noch von Cornelius konzipierten „Ersatz-Ouvertüre“), doch auch diese reüssierte nicht. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich das Werk durch – in der Originalfassung. 1960 wurde es sogar auf der Seebühne Bregenz realisiert. Zum wirklichen Publikumsrenner wurde es allerdings nie – und die jetzige weltpolitische Lage wie auch der Wokismus haben ihm mit Beginn des 21. Jahrhunderts endgültig den Garaus gemacht. Zwischen 2013 und 2018 hatten sich nur einige kleinere Bühnen (Coburg, Plauen, Wuppertal, Gießen) am „Barbier“ und auch nur teils konzertant versucht. Nach 2018 fand im deutschen Sprachraum keine Aufführung mehr statt.
Hörtip „Der Barbier von Bagdad“: Die Gesamtaufnahme unter Erich Leinsdorf (1956) mit Nicolai Gedda, Elisabeth Schwarzkopf und Oskar Czerwenka (als Barbier); die Originalfassung wurde 1952 unter Heinrich Hollreiser eingespielt (mit Rudolf Schock, Sena Jurinac und Gottlob Frick). Hollreiser brachte 1973 das Werk nochmals heraus – mit Sylvia Geszty, Adalbert Kraus und Karl Ridderbusch. Eine neuere auf CD erhältliche Einspielung gibt es nicht.
Dichterkomponist Peter Cornelius (1824–1874), digital restaurierte Reproduktion einer Vorlage aus dem 19. Jahrhundert
„Der Barbier von Bagdad“, Aufführung im Dezember 1979: Mitwirkende waren Kammersänger Karl Ridderbusch (mit langem Bart) und Bernd Weikl (auf dem Thron)