Die Erinnerungen sind bei ihm noch heute lebendig. „Es war ein Alptraum, den du niemals, wirklich niemals wieder vergißt, der schlimmste Tag in meinem Leben“, sagt Gus. Der 45 Jahre alte Taxifahrer lebt auf der Ferieninsel Phuket. Er steht an der Küste von Karon Beach, den Blick hinaus auf das Meer gerichtet. Dorthin, von wo aus eine der größten Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte ihren Anfang genommen hatte. „Immer wieder sterben hier Menschen. Zumeist in der Regenzeit. Dann sind die Unterströmungen besonders stark, manch einer unterschätzt das“, erzählt der Familienvater.
Doch das, was in den Morgenstunden des 26. Dezember 2004 auf die thailändische Insel zurollt, unterschätzen alle. Es ist keine Regenzeit, keine roten Flaggen, die an den Stränden wehend vor dem Baden warnen. Auch das Wetter gibt keinen Anlaß zur Sorge.
„Niemand war auf so etwas vorbereitet, der Tsunami hatte die Leute vollkommen überrascht.“ Und so denkt sich auch Gus nichts Besonderes dabei, als ihn seine Schwiegermutter an jenem Tag gegen 8.30 Uhr besorgt anruft. „Sie fragte mich, ob wir ein Erdbeben hätten, weil sie eine Erschütterung gespürt hatte. Da beruhigte ich sie noch, weil ich selbst davon überhaupt nichts bemerkt hatte.“
Es wird noch etwa eine Stunde dauern, bis es alle bemerken. Für alle, die sich noch am Meer befinden, dürfte es dann bereits zu spät sein, sie werden sterben. Auch jene, die am Strand von Karon Beach stehen. Gus ist einer von ihnen. Daß er überlebt, ist „purer Zufall“, wie er sagt.
„Glücklicherweise war Sonntag und ich hatte meinen freien Tag“, erzählt er. Deshalb ist er nicht mit dem Taxi unterwegs, fährt stattdessen mit seinem Motorrad nach Karon Beach zum Joggen. Als ihn seine Schwiegermutter anruft, hat er seinen Lauf gerade beendet, steht genau dort, wo er 20 Jahre später zusammen mit der JUNGEN FREIHEIT erneut steht und über eine kleine, aber folgenschwere Entscheidung spricht.
Gus ging nicht schwimmen, diese Entscheidung rettete sein Leben
„Ich überlegte, ob ich noch kurz schwimmen gehe, entschied mich dann aber dagegen.“ Noch immer blickt er nachdenklich auf das Meer hinaus, während er das sagt. Seine Lippen zittern, seine Stimme stockt, wenn er darüber spricht.
Er weiß: Diese Entscheidung rettete ihm das Leben. Statt zu schwimmen schwingt er sich auf sein Motorrad, fährt zurück in Richtung des zwanzig Kilometer nördlich von Karon Beach gelegenen Ortes Bangtao, wo er gemeinsam mit seiner Frau und seiner damals vier Jahre alten Tochter lebt.
45 Minuten später ist er fast schon zu Hause angekommen, als an den Stränden plötzlich das Wasser zurückgeht. Urlauber machen Fotos und Videos davon, nicht ahnend, daß sie sich längst in Lebensgefahr befinden. 15 Minuten später bricht die erste Welle über die Ufer, verwandelt sich das Urlaubsparadies in eine Hölle.
Wassermassen schießen durch die Straßen, reißende Schlammfluten fressen sich durch die Gassen von Patong, dem Hauptort der Insel. Alles mit sich reißend, was sich in den Weg stellt. „Wenn ich gearbeitet hätte, wäre ich genau dort gewesen, irgendwo zwischen Patong Beach und Kamala Beach hätte ich Fahrgäste befördert“, erklärt Gus. Auch das hätte für ihn wohl den Tod bedeutet.
Zwischen den beiden Orten befindet sich ein See, etwa fünfzig Meter tief. Am Tag des Unglücks wird das Gewässer zur Todesfalle. „Alles fuhr panisch und wild durcheinander, überall waren Unfälle, zusammengekrachte und ineinander verkeilte Autos auf den Straßen.“ Und es sollte noch schlimmer werden. „Als die nächste Welle kommt, werden die Autowracks mitsamt ihrer Insassen in den See gespült, er wurde zum Massengrab“, erinnert sich der Familienvater.
Nichts geht mehr auf den Straßen. Doch mit seinem Motorrad ist Gus wendiger, kann an den zahlreichen Trümmerteilen und Autowracks vorbeisteuern. Vieles von dem, was er da sieht, hat er heute ausgeblendet. „Filmriß“, sagt er. Müll, Schlamm, schreiende, blutende Menschen. Das ist alles, was ihm auf der Straße des Grauens noch in Erinnerung geblieben ist. „Was ich da sah, versetzte mich in Panik“, schildert er.
Er will von da an nur eines. Zurück nach Hause, nur noch zurück. Es ist nicht mehr weit, nur noch fünf Kilometer. Doch es werden die längsten fünf Kilometer seines Lebens. Vorbei an Tragödien und Einzelschicksalen. „Ich hatte einen Tunnelblick, hatte die dramatischen Schicksale der Menschen um mich herum total ausgeblendet.“ Seine Gedanken drehen sich ausschließlich um seine Familie, um sein Haus. Sind seine Frau und seine Tochter noch am Leben? Hat sein Haus die Katastrophe überstanden? Stunden vergehen, bis er sein Ziel erreicht. Und er hat Glück: Sein Heim befindet sich an einer Stelle, die vom Tsunami verschont geblieben ist, seine Familie ist unversehrt.
„Das Wissen über Tsunamis hat unter den Gästen zugenommen“
Andere haben weniger Glück. Da ist das deutsche Ehepaar, das er jedes Jahr aufs neue stets vom Flughafen abholt, wenn die beiden ihren Jahresurlaub auf Phuket verbringen, beide um die 60 Jahre alt. Er nennt sie immer liebevoll Mama und Papa, so vertraut ist das Verhältnis zu ihnen im Laufe der Jahre geworden. Er weiß: Das Paar ist auch auf der Insel, er hat sie vor wenigen Tagen zu ihrem Hotel gebracht. Tage später macht er sie in dem nun herrschenden Chaos auf der Insel ausfindig.
„Papa hatte sich bei der ersten Welle beide Beine gebrochen“, erzählt er der jungen freiheit. Das Paar wird später nach Deutschland evakuiert. Der Tourismus auf der Insel ist zu diesem Zeitpunkt zusammengebrochen, nichts geht mehr.
Erst ein Jahr später wird er „Mama“ wiedersehen. Nur „Mama“. „Ihr Mann ist in Deutschland verstorben. Zu den gebrochenen Beinen war noch eine Infektion gekommen“, erzählt Gus.
Auch Tida, eine kleine rundliche Frau mit sonnengegerbter, faltiger Haut hat ihren Mann verloren. Die 53jährige war mit einem zehn Jahre älteren Deutschen verheiratet, hatte mit ihm ein kleines Restaurant in der City von Patong betrieben. „Ich war auf dem Markt zum Einkaufen, als der Tsunami kam. Wolfgang hatte sich im Restaurant um unsere Frühstücksgäste gekümmert.“
Als sie zurückkehrte, war nichts mehr wie zuvor. „Ich erkannte nichts mehr wieder, überall nur Wasser, Schlamm und Trümmer.“ Tränen fließen ihr über die Wangen, als sie das sagt. Zu sehr schmerzt die Erinnerung. Ihr Restaurant: verschwunden, verschluckt vom Tsunami. Tagelang habe sie dann nach ihrem Mann gesucht. Erst nach einer Woche dann die Gewißheit: Wolfgang ist tot.
„Ich fühlte nur noch Schmerz, ich stand vor dem Nichts“, sagt Tida. Auch Gus geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten. „Die Insel lebt ja vom Tourismus. Von einem Tag auf den anderen hatte ich keine Kundschaft mehr. Der Wiederaufbau der Insel nach der Katastrophe war eine gewaltige Aufgabe für uns.“
Zwei Jahrzehnte später erinnert nur noch wenig an die Katastrophe von einst. Unzählige neue Hotelkomplexe sind seitdem entstanden, Straßen und Strände in einem deutlich besseren Zustand als in Deutschland. „Alle packten beim Wiederaufbau mit an, nach einem Jahr kamen die Touristen bereits wieder zurück“, schildert Gus, wie die Infrastruktur seinerzeit in einem regelrechten Kraftakt zügig wieder aufgebaut wurde. Doch die Angst vor Tsunamis hat sich tief ins Gedächtnis der thailändischen Bevölkerung eingebrannt.
„Phuket war vor der Katastrophe einfach nicht auf Tsunamis vorbereitet. Es gab keine Tsunami-Warnsysteme und keine speziell ausgebildeten Rettungskräfte. Doch heute ist das ganz anders“, sagt Gus und steuert mit seinem Wagen die Küste seines Heimatortes an. Nicht nur dort stehen seitdem blau-weiße Warnschilder. „Tsunami Evacuation Route ist darauf in Englisch und Thai zu lesen. Aufgestellte Warnpfeiler markieren zudem Gefahrenzonen vor einem möglichen Tsunami.
Die thailändische Regierung, die lokalen Behörden sowie internationale Organisationen hatten nach der Katastrophe umfassende Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, um die Insel und ihre Besucher vor ähnlichen Ereignissen zukünftig zu schützen. Ein hochentwickeltes Tsunami-Warnsystem wurde aufgebaut, über 40 Frühwarnstationen entlang der Westküste installiert, die im Falle eines drohenden Tsunamis sofort Alarm schlagen.
Warnsysteme, die mit internationalen Datenbanken verknüpft sind und in Echtzeit potentiell gefährliche Wellen erkennen. „Sobald eine Bedrohung festgestellt wird, werden alle Hotelanlagen und Strandbars sofort informiert, und die Menschen haben genügend Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen“, beruhigt Tida, die sich mittlerweile ein neues Restaurant aufbauen konnte und dies regelmäßig ihren Gästen erklärt.
Evakuierungsrouten weisen gefährdeten Menschen nun den Weg zu rettenden, höher gelegenen Gebieten. „In Hotels und Restaurants gibt es jetzt regelmäßig Übungen zu Evakuierungen im Falle eines Tsunamis“, erzählt Tida. Viele Gäste wüßten heute, was sie im Notfall tun müßten. Die Hotels bieten inzwischen auch Informationsmaterial und Sicherheitsbriefings an, in denen Touristen über das Verhalten im Falle eines Tsunamis informiert werden.
„Das Wissen über Tsunamis hat unter den Gästen stark zugenommen“, schildert Tida ihre Erfahrungen der letzten Jahre. Doch für so manchen Einheimischen sei die Katastrophe bis heute ein Trauma. So mancher von ihnen würde aus Angst vor einem Tsunami bis heute die Insel meiden. „Auch meine Schwester kommt mich seitdem nicht mehr in Phuket besuchen“, verrät sie. Schuld daran sei der Geister-Glaube, der in Thailand weit verbreitet ist. „Manche sind der Meinung, auf der Insel laste ein Fluch, und die Seelen der Ertrunkenen würden hier noch umherirren.“
Ein Fluch, der dem Tourismus der Insel jedoch nicht geschadet hat. „Phuket boomt wieder, Buddha sei Dank“, meint Tida und lächelt. Und gegen potentielle Geister habe sie ein wirksames Rezept: „Wiener Schnitzel, so wie sie mein Mann einst gebraten hat. Die schmecken auch den Untoten“, ruft sie und bricht in schallendes Gelächter aus.
Fotos: Das Seapearl Beach Hotel am 26. Dezember 2004: Phuket war nicht auf Tsunamis vorbereitet – es gab keine Warnung und kein Rettungswesen, Das Erbeben und die Tsunami-Regionen im Indischen Ozean
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