© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/24-01/25 / 20.-27. Dezember 2024

Alle Augen blicken auf Ankara
Syrien: Nur mit einer Charmeoffensive können die HTS-Rebellen das Land nicht stabilisieren
Felix Hagen

Es ist der vorläufige Schlußpunkt eines an Ereignissen überreichen Jahres 2024: Innerhalb weniger Tage endete in Syrien die Ära Assad. Die Flucht des langjährigen Staatsoberhaupts und die Machtübernahme der durch die Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) geführten Übergangsregierung vernichtet in Syrien das letzte Erbe des panarabischen Baathismus. Einer Ideologie, die in sich alle Widersprüche des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenführte und die am Ende vor allem an älteren Stammes- und Konfessionsgegensätzen scheiterte. Viele Syrer, das haben die spontanen Freuden- und Siegesfeiern in den mehrheitlich sunnitischen Gebieten des Landes, aber auch unter Exilsyrern im Ausland gezeigt, sind mit dem vorläufigen Ergebnis des Bürgerkriegs zufrieden. Andere, vor allem religiöse Minderheiten wie Alawiten, Drusen und Christen, dürften hingegen mit Sorgen auf die Zukunft blicken. 

Denn trotz der vollmundigen Versprechen von religiöser Toleranz und demokratischer Reformen, die HTS-Führer Mohammed al-Dschaulani verkündet, haben sich im Land längst neue Frontlinien gebildet. Viele ethnische und religiöse Minderheiten setzen ihre Hoffnung nun in die kurdisch geprägten und zumindest bisher von der US-Regierung unterstützten Syrian Democratic Forces (SDF), was sie allerdings in Konflikt mit dem neuen starken Mann der Region, dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan, bringen dürfte. Der Konflikt zwischen SDF und der türkisch unterstützten Syrian National Army (SNA) wird al-Dschaulani  noch längere Zeit Kopfzerbrechen bereiten.

Israel möchte seine Lufthoheit über Teile Syriens aufrechterhalten

Denn auch wenn Ankara die HTS-Offensive  logistisch und politisch vorbereitet und unterstützt haben dürfte, ist die Beziehung zwischen al-Dschaulani Kämpfern und der Türkei nicht ohne Konfliktpotential. Al-Dschaulani ein in Riad geborener Sohn syrischer Flüchtling, entstammt väterlicherseits der Denkschule des panarabischen Nationalismus, fand dann aber über saudische Prediger zum Salafismus. Weder der arabische Nationalismus noch die strenge Denkschule aus Saudi-Arabien gelten als besonders türkeifreundlich. Neo-osmanische Bestrebungen, die Erdoğan nachgesagt werden, dürften ebenfalls nicht in die Agenda des HTS-Führers passen. 

Ganz im Gegensatz zur SNA, die eng in türkische Kommandostrukturen eingebunden ist und als eine Art Schweizer Taschenmesser der türkischen Außenpolitik fungiert. Selbst in Konflikten außerhalb Syriens kommen die Männer der SNA zum Einsatz, etwa in Libyen, Berg-Karabach oder dem Niger. Die SNA trägt bereits jetzt die Hauptlast der Kämpfe mit kurdischen Einheiten im Norden und wird zunehmend auch durch offen operierende, reguläre türkische Truppen unterstützt. 

Ein weiterer Profiteur der Lage ist ohne Frage Israel. Neben beträchtlichen Geländegewinnen in der Gegend von Damaskus konnte die israelische Luftwaffe in einer mehrtägigen Kampagne die nun weitgehend unbemannte Luftabwehr des Landes in Schutt und Asche legen. Auch vor dem Hintergrund dürfte sich al-Dschaulani mit Kritik am Judenstaat zurückhalten – trotz stärker werdenden Drucks seiner islamistischen Bundesgenossen. Bisher gingen israelische und islamistische Interessen im Bürgerkriegsland Hand in Hand. Ohne die israelische Offensive im Südlibanon wäre der Siegeszug der HTS kaum denkbar gewesen. 

Doch das inoffizielle Zweckbündnis der beiden ungleichen Partner könnte eher früher als später zu Ende gehen. Wie ein Stachel sitzt die Gaza-Frage und die Besetzung Ost-Jerusalems im Fleisch des politischen Islamismus. Eine Situation, die der Kampf gegen Assad und seine alawitisch dominierte Regierung einstweilen überdecken konnte.  Die aber nun um so virulenter aufbrechen dürfte.

 Auch deshalb richten sich die israelischen Truppen offenbar auf eine längere Besatzungszeit ein. Neben der vollen Kontrolle über den Berg Hermon und einiger Dörfer und Landstriche südlich von Damaskus wird Israel vor allem Wert auf die Lufthoheit im Nachbarland legen. Solange die Regierung in Jerusalem nach Belieben im Nachbarland aus der Luft zuschlagen kann, so die Hoffnung im israelischen Generalstab, werde sich die Etablierung einer neuen feindlichen Kraft im Land verzögern lassen.

Erdog˘an ist plötzlich der Schutzherr der Sunniten 

Auch mit Ankara dürfte Israel so langfristig in Konflikt kommen. Erdoğan ist mit dem Sieg in Syrien auch die Rolle als Schutzherr der Sunniten in den Schoß gefallen. Eine Position, die das Osmanische Reich zuletzt im Ersten Weltkrieg innehatte. Erschwerend hinzu kommt die Unberechenbarkeit der israelischen Siedlungsbewegung, die über zwei einflußreiche Minister im Kabinett Netanjahus verfügt. Der Bau von Siedlungen auf der syrischen Seite des höchsten Berges der Region könnte einen Flächenbrand verursachen und Israel zu einem permanenten Akteur in einem möglichen neuen Bürgerkrieg machen. 

Für alle Seiten besorgniserregend sind schließlich die Auswirkungen des Chaos in den gerade eroberten Städten. Rebellen verschiedener Fraktionen, aber auch bezahlte Söldner und gewöhnliche Kriminelle überzogen das Land in den vergangenen Tagen mit einer Welle aus Raubüberfällen, Lynchmorden und Plünderungen. Die Öffnung aller Gefängnisse spülte neben einigen politischen Gefangenen vermutlich auch Hunderte verurteilte Straftäter und Terroristen auf die Straßen der großen Städte. Der Libanon verstärkte bereits seine Grenzüberwachung. Hatte doch der libanesische Innenminister zum Thema der aus syrischen Gefängnissen entlassenen Libanesen erklärt: „Sie sind keine politischen Gefangenen, sie verbüßten Strafen für Verbrechen.“

Viele dürften daraufhin untergetaucht, sein. Wo die frisch Befreiten langfristig auftauchen bleibt völlig unklar, eine funktionierende Strafverfolgung existiert auf absehbare Zeit nicht. Priorität für die Übergangsregierung ist, so al-Dschaulani, der seit der Machtübernahme wieder seinen bürgerlichen Namen Ahmed as-Schar angenommen hat, vor allem der Aufbau der Wirtschaft und damit auch ein Ende der Sanktionen des Westens, die das Land seit Jahren plagen. In ein „neues Syrien“ könnten dann auch „endlich die geflohenen Landsleute“ heimkehren, so der ehemalige salafistische Kämpfer. Das Kalkül des ehemaligen al-Qaida-Manns: Die europäischen Staaten, die Sanktionen getragen haben, dürften das größte Interesse an einer schnellen Rückkehr von Millionen Syrern haben. Wirtschafts- und Aufbauhilfe gegen Remigrationsabkommen, so könnte ein künftiger Deal zwischen Europäern und der neuen syrischen Regierung lauten.