© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/24-01/25 / 20.-27. Dezember 2024

Grüße aus … Rio
Das europäische Brasilien
Wolfgang Bendel

Der Verwandte, der uns zu einer Rundfahrt mitgenommen hatte, verließ plötzlich die gut ausgebaute Hauptstraße und bog rechts in eine Schotterstraße ein: „Wir müssen den Fluß jetzt mittels zweier Behelfsbrücken überqueren. Das Hochwasser hat die alte Brücke weggerissen, und der Neubau ist noch in vollem Gange. Es hatte damals zwei Wochen lang fast ununterbrochen stark geregnet.“

Wir befanden uns in Rio Grande do Sul, dem südlichsten Bundesstaat Brasiliens. Dort hatte es im Mai verheerende Überschwemmungen gegeben, die Hunderte Menschenleben gefordert und Milliardenschäden an Gebäuden und der Infrastruktur hinterlassen hatten. An vielen Stellen war der Wiederaufbau für brasilianische Verhältnisse schon weit fortgeschritten, trotzdem konnte man noch nicht alle Schäden beseitigen. 

Es gab Gulasch, Sauer- und Rotkraut, Kartoffelsalat und Würstel. Dazu spielte Blasmusik und es gab Volkstanz.

In dem an Uruguay und Argentinien angrenzenden Bundesstaat wirken nicht nur Klima und Landschaft mitteleuropäisch; auch die ansässige Bevölkerung kann und will ihre europäische Herkunft nicht verleugnen. Besonders das an die Küste angrenzende Hinterland, die Serra Gaúcha, erinnert stark an deutsche Mittelgebirge oder nord- und mittelitalienische Landschaften. Hügelig, stark bewaldet, gut strukturierte, saubere Kleinstädte. Auch die Menschen sind durchweg europäischer, zumeist deutscher oder italienischer Abstammung. Sie waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugewandert, um der Armut in der alten Welt zu entfliehen und eine neue Heimat zu finden. „Bei uns sind schätzungsweise 99 Prozent der Bevölkerung in irgendeiner Form deutscher Abstammung“, versicherte die Inhaberin eines Geschäfts für Kosmetikartikel in der Kleinstadt Nova Petrópolis. Am gleichen Ort besuchten wir eine „Noite Alemã“, eine deutsche Nacht. Dort gab es Gulasch, Sauer- und Rotkraut, Kartoffelsalat, Würstel und andere typisch deutsche Spezialitäten. Dazu spielte Blasmusik, und es gab Volkstanz. Es traten sogar Schuhplattler auf. Was die Bevölkerung dieses Teils Brasiliens von der anderer Landesteile unterscheidet, ist der Wille, selbst initiativ zu werden. Dazu noch einmal die Besitzerin des Kosmetikgeschäfts: „Drei der vier zerstörten Brücken in unserem Landkreis haben wir durch eigene Initiative aufgebaut, ohne auf staatliche Stellen zu warten.“ 

Es gibt aber auch Städte, in denen das italienische Element dominiert. Weinanbau ist deren Stärke, was dazu führt, daß Rio Grande do Sul der Hauptproduzent brasilianischen Weins ist. Zahlreiche brasilienweit, sogar weltweit aktive Industriebetriebe zeugen von der enormen Innovationskraft und dem Fleiß der Bewohner. Manchmal beschleicht einen das Gefühl, nicht mehr in Brasilien, sondern in einem anderen Land zu sein.