© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/24-01/25 / 20.-27. Dezember 2024

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Hochleistungssport im Plenarsaal
Paul Rosen

Technische Neuerungen haben auch vor dem Bundestag nicht haltgemacht. Alle Debatten werden inzwischen auf der Internetseite live übertragen, es gibt eine eigene App mit weiteren Informationen. Online sind alle Parlamentsdokumente zu finden, die früher umständlich gedruckt und über heute längst eingestellte Publikationen per Post verteilt wurden. Aber eines hat sich nicht verändert: Wie seit Gründung der Bundesrepublik werden alle Sitzungen von Stenographen protokolliert. Wer Debatten verfolgt, kann mit ansehen, wie alle zehn Minuten am Tisch vor dem Rednerpult ein Wechsel stattfindet. Ein Stenograph steht auf, der Ersatz nimmt Platz. Im nahe gelegenen Büro im Jakob-Kaiser-Haus wird sofort die Erstellung des Protokolls in Angriff genommen. 16 Stenographen sind während eines Sitzungstages im Einsatz.

Schnelligkeit ist Grundlage des Berufs. Während „Normalschreiber“ vielleicht 40 Silben pro Minute schaffen, sind es bei Profis wie Melanie Hoffmann rund 500 Silben pro Minute. „Stenographie ist ein mentaler Hochleistungssport“, berichtet die Stenographin. Hoffmann erzählt in einem Interview mit dem Parlament, daß ihre Arbeit nicht allein aus dem Protokollieren der Reden besteht: „Wenn alles exakt so verschriftlicht würde, wie es im Plenum gesagt wird, wären die Reden oft schwer verständlich. Deshalb sind redaktionelle Anpassungen nötig, damit das Protokoll lesbar bleibt.“ Inhaltlich falsche Bezeichnungen in Reden werden ebenfalls korrigiert, wenn sie offensichtlich falsch sind. Ein Klassiker ist das Verwechseln von Millionen und Milliarden. Etwa zwei Stunden nach Ende der Rede hat der Abgeordnete in den meisten Fällen den Text in der Hand, schaut noch einmal drüber und bringt gegebenenfalls Korrekturen an. Das Protokoll in der heute üblichen elektronischen PDF-Version liegt in der Regel bereits am Morgen des nächsten Tages auf bundestag.de vor.

Die Parlaments-Stenographen erwarten nicht, daß Systeme der künstlichen Intelligenz eines Tages ihre Nachfolge antreten werden. Zwar würden Reden aufgezeichnet und auch automatisch verschriftlicht, doch bei der oft vorkommenden Unruhe im Plenarsaal einen Zwischenrufer identifizieren oder Dialekte verstehen, das können bisher nur Stenographen. Die Technik wird allerdings immer besser und ist nicht aufzuhalten: Mußten früher Tonbandaufzeichnungen von Ausschußsitzungen mühsam in Sekretariaten abgeschrieben werden, so erfolgt die Erstellung des Protokolls heute automatisch. Die Sekretariate nehmen nur noch Glättungen vor und korrigieren offensichtliche Fehler. Sekretärinnen werden im Bundestag daher heute kaum noch benötigt. 

Deshalb ist es auch nur eine Frage der Zeit, wann die Stenographie im Bundestag eingestellt und durch ein System mit Künstlicher Intelligenz ersetzt werden wird. Den Bedeutungsverlust der früher weit verbreiteten Kurzschrift dokumentiert ein anderes Ereignis aus Berlin: Eine nach dem Erfinder der deutschen Kurzschrift, Franz Xaver Gabelsberger, benannte Straße wurde kurzerhand umbenannt.