Nirgendwo ist nach 1989 die Geschichte zu ihrem von manchen behaupteten Ende gekommen. Am allerwenigsten ist das in Osteuropa der Fall, also in jenem Raum, dem vier Jahrzehnte lang von sowjetrussischen Truppen eine lähmende Diktatur aufgezwungen worden ist, die im Dienste einer atavistischen Ideologie und des russischen Imperialismus Millionen Menschen sowohl Freiheit wie Wohlstand, wie Entwicklungsperspektiven geraubt hat. Seit den 90er Jahren aber ist dort die Geschichte mit neuer Dynamik und neuen Fronten zurückgekehrt.
Ein amerikanischer Präsident hatte diesen Raum einst „neues Europa“ getauft, im Gegensatz zum „alten Europa“, also zu jenem Teil, der seit den fünfziger Jahren durch Nato und EWG/EG/EU fest stabilisiert gewesen ist, der aber gleichzeitig in Wohlstand und scheinbarer Sicherheit erstarrte, kraftlos und moralisch korrumpiert worden ist.
Im neuen Europa hingegen blühte fast überall neue wirtschaftliche und kulturelle Dynamik auf. Die Menschen wußten, daß es nach 40 Jahren kommunistischer Lähmung auf ihre eigene Anstrengung ankommt. Diese eigene Initiative fand ihre Kraft in vier Faktoren: in der neidvollen Bewunderung für den westlichen Wohlstand und Lebensstil, im Erkennen der Bedeutung der eigenen nationalen Identität, in der wütenden Verachtung für Rußland und in der Religion, die in Teilen Osteuropas eine rasche Wiedergeburt feierte.
Mehr als 30 Jahre später hat sich Osteu-ropa dadurch von Grund auf verändert. Die meisten Länder haben es dort zu Wohlstand gebracht, der gegenüber dem in Westeuropa kaum noch zurückfällt. Man muß vor allem von der wirtschaftlichen Dynamik der eher im Norden liegenden Länder wie etwa Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, Ungarn, Polen, Slowenien beeindruckt sein.
Das waren interessanterweise genau jene Regionen, die sich auch im Kommunismus relativ weniger schlecht entwickelt haben als ihre Schicksalsgenossen. Je weiter man auf den Balkan kommt, um so mehr hat sich die Entwicklung verlangsamt. Das ist vor allem, aber nicht nur Folge der Spannungen zwischen den vielen benachbarten Völkern.
Jenseits der teils sensationellen, teils frustrierenden Wirtschaftsentwicklung haben sich jedoch im gesamten osteuropäischen Raum ganz neue Frontlinien in einem historisch ungewohnten Meinungskampf entwickelt. In den osteuropäischen Auseinandersetzungen geht es um die Haltung zum Machtanspruch der EU; dabei geht es um die Haltung zu Rußland; dabei geht es um die Haltung zur Ukraine; dabei geht es um die immer wieder erfolgende Bildung neuer Parteien; dabei geht es um den Einfluß alter kommunistischer Strukturen im Lande; dabei geht es um die Bewahrung der nationalen Identität; dabei geht es um die Frage, ob die Marktwirtschaft sozialer oder ob sie sich im Richtung etwa des Argentiniers Milei bewegen soll; dabei geht es um die Haltung zur woken Degeneration im Westen; dabei geht es um die Unterschiede zwischen wohlhabenden Städtern und der ärmeren Landbevölkerung; dabei geht es um Korruption; dabei geht es um den Rechtsstaat.
All diese Fragen bilden ein wildes Kaleidoskop, das sich in jedem Land zu unterschiedlichen und zugleich ständig wechselnden Bildern formt. Während Westeuropas Geschichte durch die jahrzehntelange, aber im Grund überall sehr ähnliche Polarität zwischen Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien geprägt war und teils noch ist, auch wenn es als Antwort auf illegale Migration und Wokeismus überall zum Aufblühen neuer starker rechtskonservativer Kräfte gekommen ist, kann man im Osten mit den Begriffen „rechts“ und „links“ nur noch wenig erklären.
So sind in Polen, Tschechien oder den baltischen Staaten „rechte“ Parteien ganz massiv antirussisch und zu jeder möglichen Hilfe für die angegriffene Ukraine bereit, während sich in Ungarn und im Südosten auf der Rechten rußlandfreundliche und ukrainefeindliche Parteien entwickelt haben.
Während in etlichen vor allem westlichen Ländern die als links geltenden Parteien zumindest zeitweise sehr oft EU-skeptisch gewesen sind, sind das im Osten sehr oft rechts eingeordnete Parteien. Verwirrend für westliche Beobachter ist aber etwa auch, daß die sehr antirussische, national und religiös aufgestellte PiS-Partei in Polen, dem wichtigsten Land des Ostens, innenpolitisch starke Tendenzen zu einem linken Sozialstaat hat.
Ein Beispiel für die politische Einmischung nie gewählter Richter hat sich jetzt in Rumänien gezeigt. Dort wurde die erste Runde der Präsidentenwahlen kurzerhand für ungültig erklärt, bei der ein liberalkonservativer und ein rechtskonservativer Kandidat in die Stichwahl gekommen sind und nicht wie erwartet ein Linker.
Begründung: Rußland hat vor allem über TikTok von außen Werbung für den rechtskonservativen Rußlandfreund gemacht. Nur gibt es keinerlei Beweis oder Glaubwürdigkeit, daß das wahlentscheidend gewesen ist. Unter dieser Maßgabe wären Wahlen in vielen Ländern ungültig.
Gewiß gibt es von russischer und westlicher Seite Versuche, die osteuropäischen Länder zu beeinflussen. Das rußlandfreundliche Verhalten der ungarischen Rechtsregierung läßt sich insofern als Antwort auf Versuche der EU erklären, sich in die Politik Ungarns einzumischen. Die Stichworte lauten Schwulen- und Transkult sowie Migration. Das erinnert viele in Ungarn an die Sowjetunion, wo fremde Herren ebenfalls Vorschriften gemacht haben, weshalb man die einst gehaßte Vormacht als Gegenpol zu Brüssel plötzlich wieder zum Freund aufbaut.
Dieses Verhalten findet sich auch in vielen anderen osteuropäischen Staaten. Die EU sollte nicht glauben, daß Osteuropa kuscht, nur weil es von Transfermilliarden aus dem Westen abhängt. Das wird bald vorbei sein, wenn man den wirtschaftlichen Abstieg Westeuropas von Frankreich bis Deutschland beobachtet …
Dr. Andreas Unterberger, Ex-Chefredakteur der „Presse“ sowie der „Wiener Zeitung“. www.andreas-unterberger.at