© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/24 / 13. Dezember 2024

Der Flaneur
Winterliches Märchen
Holger Ziehm

Der Winter hat Einzug gehalten. Ich bin relativ früh auf den Beinen und muß ein paar Kilometer fahren, dann hat mein Auto Pause. Die Wanderstiefel sind geschnürt und ich nehme den Rucksack auf. Wer heute hier in die Natur geht, kann ein echtes Wintermärchen erleben: tief verschneit ist der Wald. 

Stille Plätze ziehen mich an, Hektik und Lärm stoßen mich ab. Der Schnee verleiht dem Wald eine besondere Atmosphäre – diese Mischung aus Ruhe, Klarheit und der spiegelnden Helligkeit, die fast magisch wirkt. Es ist Frost, der Schnee fällt am Boden nicht zusammen und bleibt auch auf den Zweigen und Ästen liegen. Bald werde ich an der 800-Meter-Marke kratzen, knapp jedenfalls.

Der Mann ist verdattert, stammelt ein bißchen schuldbewußt mit dem Handy vorm Gesicht.

Kaum ein Mensch ist zu sehen. Da kommt doch jemand. Der Mann grüßt mich freundlich und bleibt stehen. Er strahlt, wie ich wohl ebenfalls. Aber er warnt mich auch, oben sei es etwas rutschig. Es geht trotzdem weiter bergan, jetzt kommt der Eisnebel, der alles zu verschlucken scheint – auch die Geräusche. Die Wipfel der Bäume hoch über mir bewegen sich wie von Geisterhand kräftig hin und her, obwohl es eigentlich windstill ist. Ich nähere mich wohl dem Gipfel, wo es bläst.

Trotz der Bedingungen lasse ich es mir oben nicht nehmen und trinke „in Ruhe“ ein paar Schlucke Kaffee aus der Thermoskanne. Was für ein herrlicher Ausflug. Ich erklimme auch den Bismarckturm, jetzt bin ich dem Himmel noch näher. Die schöne Aussicht reduziert sich heute auf vielleicht 30 Meter. Unten lese ich die Tafel: Gestiftet dem Kaiser und seiner Gemahlin zur silbernen Hochzeit. Der müßte sich mal anschauen, wie es heute bei uns so aussieht, denke ich. 

Auf dem Rückweg überholt mich ein einsamer Wanderer. Er hält sein Mobiltelefon vor das Gesicht und marschiert an mir vorbei. Jetzt kommt meine „gemeine Seite“ mal wieder hervor. „Wie, hier draußen und immer noch am Handy?!“, ätze ich, obwohl er wahrscheinlich nur navigiert. 

Der Mann ist verdattert, stammelt ein bißchen schuldbewußt. Er weiß nicht, daß ich mich dafür manchmal verlaufe, denn mein Telefon liegt ausgeschaltet in meiner Schreibtischschublade zu Hause. Nun freue ich mich auf meine Kachelofenbank und einen heißen Tee.




Wer nichts wagt, der darf nichts hoffen.

Friedrich Schiller (1759–1805)