© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/24 / 13. Dezember 2024

Der Gigolo, den Bismarcks Dogge niederwarf
Serie Bewegende Köpfe, Teil 24: Fürst Alexander Michailowitsch Gortschakow als außenpolitischer Gegenspieler des Eisernen Kanzlers
Rainer F. Schmidt

Er wurde in der Eliteschule seines Landes erzogen, unweit von Zarskoje Selo südlich von Sankt Petersburg, der prachtvollen Residenz des Zaren, die noch heute ein Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt ist. Dort lernte Fürst Alexander Michailowitsch Gortschakow nicht nur die klassischen Sprachen, Latein und Griechisch, sondern auch Französisch, das er akzentfrei sprach und im diplomatischen Verkehr stets benutzte, was zur Basis für eine lebenslange Verehrung der französischen Kultur wurde. Einer seiner Mitschüler, später einer der größten Dichter seines Landes, widmete ihm schon auf der Schule schwülstige Verse, wie diesen: „Möge Cupido Dein ständiger Begleiter sein bis an die Ufer des Styx, und mögest Du, bis Charons Barke dich entführt, immer am Busen der Helena schlummern“, säuselte Alexander Puschkin.

Womöglich nahm er diesen Wunsch dann später allzu wörtlich, sobald er es zu etwas gebracht hatte. Denn die Zahl seiner unehelichen Kinder ging in die Legion, was Bismarck zu dem beißenden Spott veranlaßte: „Ich sehe den Vater, ich sehe den Sohn, aber ich sehe nicht den Heiligen Geist.“ Jedes Jahr, wenn er zur Badereise in Bad Ems oder in Wildbad im Schwarzwald aufkreuzte, sperrten die Mütter ihre Töchter weg. Sobald er nämlich den Harem an willigen Damen satt hatte, den er stets zur Ertüchtigung und Erbauung, wie er sagte, mit sich führte, sandte er seine Leibdiener aus, um Jagd auf Jungfrauen zu machen. Die armen Geschöpfe, die ihm auf diese Weise in die Hände fielen, entlohnte er für ihre Dienste zwar fürstlich, wie es seinem Rang entsprach. Für die oft genug dabei entstehenden Sprößlinge seiner Wollust hatte er freilich keinen einzigen Kreuzer übrig. 

Lebenslang hielt er sich zugute, ein Meister in allen geschlechtsübergreifenden Dingen zu sein. Es war daher kein Zufall, daß er seinen Aufstieg ins höchste Staatsamt seines Landes seiner Kunstfertigkeit in der Paarung verdankte, die er wie kein zweiter beherrschte. Als unbedeutender Gesandter des Zaren in Stuttgart gelang es diesem hemmungslosen Erotiker, die wenig attraktive Tochter seines Kaisers, die an allen europäischen Höfen abgeblitzt war, mit dem Erben des Württemberger Königs zu verkuppeln, nachdem er selbst tatkräftig dazu beigetragen hatte, alle Rivalinnen zu kompromittieren.  Dies sicherte ihm die Aufmerksamkeit des Zaren, brachte ihm zunächst den Posten eines bevollmächtigten Gesandten am Frankfurter Bundestag ein und dann den Botschaftersessel in Wien. Kurz nach dem Krimkrieg 1856 avancierte er zum Außenminister. Und elf Jahre später wurde er zum Staatskanzler befördert, dem höchsten politischen Amt seines Heimatlandes. 

Bismarck war ihm auf dem Frankfurter Parkett mit anfänglicher Nähe und Sympathie begegnet, gab er doch Sentenzen von sich, die Bismarck durchaus imponierten und einen Gleichklang schufen: „Österreich ist kein Staat. Es ist nur eine Regierung.“ Oder: „Wien ist ein Messer mit scharfer Spitze, aber ohne Schnei-de“. Bald jedoch wandelte sich das Verhältnis bis hin zur abgrundtiefen Abneigung und persönlichen Feindschaft. „Ich möchte nicht für eine Stunde in meinem Leben einmal das sein, wofür er sich alle Tage hält“, so zog Bismarck über ihn her. „Die Eitelkeit dominiert ihn ausschließlich, mag er sich die Nägel putzen oder Staatsverträge unterzeichnen. Er ist ein feierlicher, ungelenker Narr, ein Fuchs in Holzschuhen.“ 

Gortschakows Koketterie mit Frankreich brüskierte Bismarck

Das unheilbar zerrüttete Verhältnis hatte seine Wurzel nicht nur in persönlicher Antipathie. Es rührte auch daher, daß er sich stets allen Sirenenklängen Bismarcks zum Abschluß eines Zweierbündnisses entzog und offen mit Frankreich kokettierte. Ständig kehrte er seine Überlegenheit heraus und brachte Bismarck in der „Krieg-in-Sicht-Krise“ 1875 seine schlimmste außenpolitische Niederlage bei. Ja, er posaunte diese auch noch laut vor der Weltöffentlichkeit heraus. Vor allem aber stiftete er den Zaren nach dem Berliner Kongreß im „Ohrfeigenbrief“ dazu an, bei Kaiser Wilhelm unverhohlen Bismarcks Entlassung einzufordern. „Alter Gimpel, geht mir unsagbar auf die Nerven, mit seiner weißen Krawatte, seinem Geistreich-sein-wollen und seiner Anmaßung“ – so kommentierte dies Bismarck sarkastisch, nachdem der Angriff abgewehrt worden war.  

Vielleicht lag aber auch alles an Bismarcks riesiger Dogge Tyras. Denn obschon Gortschakow Frauen gegenüber nicht gemein und verächtlich genug handeln konnte, Hunden gegenüber war er von panischer Angst erfüllt. Diese Phobie teilte er mit einer Kanzlerin unseres Jahrhunderts. Und Bismarck nutzte diese Schwäche ebenso aus, wie vor wenigen Jahren einer der Nachfolger Gortschakows. Beide, Putin wie Merkel, hatten wohl keine Ahnung, daß es sich hierbei sozusagen um eine historische Retourkutsche handelte, für das, was sich fast 150 Jahre vorher zugetragen hatte. 

Als Bühne hatte Bismarck den Berliner Kongreß gewählt, bei dem alles versammelt war, was unter den Staatsmännern Rang und Namen hatte. Als Gortschakow, wie immer vor seinem Rivalen Bismarck, als erster in den Konferenzsaal stolzierte, um seine Bedeutung herauszustreichen, sprang die mächtige Dogge Bismarcks direkt auf ihn zu, so daß er sich zu Boden warf und einen plötzlichen Rheumaanfall vorschützte. Und als Bismarck eilfertig zur Stelle war, um ihm aufzuhelfen, wurde die Sache noch peinlicher. Denn der Hund wähnte, daß sich sein Herr offenbar in einem Kampf mit einem Gegner befand. „Nur durch Bismarcks tatkräftige Anstrengungen“, so schrieb der englische Premierminister Disraeli seiner Königin nach Hause, „ist es dann gelungen, den Hund daran zu hindern, ihn zu beißen“.

Gortschakow fand das Ende, das seiner Wollust adäquat war. Als 85jähriger Greis wurde er im März 1883 in Baden-Baden tot aus dem Bordell geschleift.



Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.

Bild: Alexander Gortschakow