© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/24 / 13. Dezember 2024

„Brauchen wir nicht“
„Des Kaisers Holocaust“? Der Berliner Schloßbewohner Wilhelm II. war weder am Krieg in Deutsch-Südwestafrika noch überhaupt an Kolonien auf dem Schwarzen Kontinent interessiert
Oliver Busch

Das Buhlen um öffentliche Aufmerksamkeit verführt Historiker mitunter dazu, die Grenze zum Journalismus zu überschreiten. Dann entstehen auf den Massenkonsum berechnete Schwarz-Weiß-Gemälde, die ihre Absicht, Geschichte politisch zu verwerten schon in reißerischen Buchtiteln anzeigen. Als Beispiel könnte die von David Olusoga und Caspar W. Erichsen 2010 vorgelegte Untersuchung zur Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika dienen: „The Kaiser’s Holocaust. Germany’s Forgotten Genocide and the Colonial Roots of Nazism.“ Darin präsentieren die Autoren Kaiser Wilhelm II. als Hauptverantwortlichen, Initiator und Befehlsgeber der als „Völkermord“ eingestuften militärischen Operationen der deutschen Schutztruppe, die 1904/05 im heutigen Namibia einen Aufstand der indigenen Herero und Nama niederschlug. 

Im Berliner Schloß standen die Kolonien nie im Mittelpunkt

An der inzwischen zur herrschenden Meinung geronnenen Meistererzählung vom „ersten deutschen Genozid“ (Jürgen Zimmerer) an schätzungsweise 60.000 Herero und 10.000 Nama rüttelt Jonas Kreienbaum (FU Berlin) in seinem umfangreichen Aufsatz „Der Kaiser, das Berliner Schloß und der deutsche Kolonialismus“ (Historische Zeitschrift, Band 319/2024) zwar nicht. Aber den maßgeblichen Einfluß des Monarchen auf diesen Kolonialkrieg möchte er in seiner quellenkritischen Studie immerhin relativieren. Zugleich mit der einfältigen Formel von des „Kaiser’s Holocaust“ nimmt Kreienbaum überdies die in der erinnerungspolitischen Debatte um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses bis heute nachhallende Klitterung ins Visier, die Rekonstruktion der Residenz der Hohenzollern hätte sich verboten, weil dort über die „Versklavung Tausender Menschen aus Afrika sowie über Völkermorde und Konzentrationslager in Deutschlands ehemaligen Kolonien“ entschieden worden sei. 

Diese plumpe Agitation zu zerlegen, kostet Kreienbaum geringe Mühe. In Ausstattung und Ikonographie des Schlosses, soweit sie fotografisch überliefert sind, deutete nämlich „überraschend wenig“ auf einen „Tatort“ deutscher Kolonialgeschichte hin. Im Vergleich mit der Flottenpolitik, die sich mit vielen Bildern und Modellen in die Räume drängte, blieben die Kolonien dort sogar „unsichtbar“. Und als zwischen 1891 und 1894 der Weiße Saal, der wichtigste Festraum, prachtvoll neu gestaltet wurde, verzichtete man konsequent darauf, das Schloß innenarchitektonisch als Zentrum eines mehrere Kontinente umfassenden Imperiums zu inszenieren. Stattdessen stand wieder die traditionelle Verherrlichung der Hohenzollerndynastie im Vordergrund. 

Solche Zurückhaltung korrespondierte mit der marginalen symbolischen Bedeutung des Schlosses als diplomatisch-protokollarischer „Schauplatz des kolonialen Projekts“. Nur zweimal, 1896 und 1911, kam hier Wilhelm II., der unruhige „Reisekaiser“,  der ausgerechnet um „seine“ Schutzgebiete einen großen Bogen machte und sie nie besuchte, während kurzer Audienzen mit kolonialen Untertanen aus Deutsch-Südwestafrika und Samoa zusammen. Wie oft das Schloß zwischen 1890 und 1914 für solche Begegnungen wirklich genutzt wurde, ist allerdings unbekannt, da eine systematische Erhebung aller Kolonialaudienzen weiterhin Forschungsdesiderat ist. Doch selbst wenn diese Lücke geschlossen sein werde, ändere dies nichts am Befund, daß der Schlüter-Bau kolonialpolitisch höchstens eine symbolische Funktion erfüllte, die strategischen Entscheidungen auf diesem Felde aber anderorts getroffen wurden: in der Reichskanzlei, im Auswärtigen Amt, im Reichskolonialamt und von den Gouverneuren in den Kolonien.

Größere, feinanalytische Anstrengungen als dieser Ausflug in die Berliner Machttopographie fordert die Mär von des „Kaiser’s Genocide“ Kreienbaum ab. Dabei konzentriert er sich auf die Prüfung der vor allem von Jeremy Sarkin („Germany’s Genocide of the Herero“, 2011) und etlichen Nachtretern radikalisierten These, der Kaiser habe dem im Mai 1904 von ihm als Kommandeur der Schutztruppe ernannten Generalleutnant Lothar von Trotha einen ausdrücklichen Befehl erteilt, alle Aufständischen zu vernichten. Trothas berüchtigte, nach einer mißlungenen Einkesselung ergangene „Proklamation an das Volk der Herero“ vom September 1904, die ihnen drohte, jedes mit oder ohne Waffe angetroffene Stammesmitglied zu erschießen, Frauen und Kinder in die Wüste zurückzujagen und dem Verdursten preiszugeben, scheint zu dokumentieren, daß der General exakt exekutierte, was sein oberster Kriegsherr wollte. Das Problem ist nur, daß in den Akten keine derartige kaiserliche Instruktion zu finden ist. In seiner Beweisnot spekulierte Sarkin daher darüber, der Vernichtungsbefehl sei vielleicht („probably“) mündlich erteilt worden. 

Ein Genozidbefehl des Monarchen an Trotha ist nirgends nachweisbar

Obwohl solche Ausflüchte die ganze Konstruktion zu Wilhelm II. als Völkermord-Drahtzieher längst einstürzen ließen, prüft Kreienbaum anhand der Aktenüberlieferung nochmals, ob sich im Konflikt, in den Trotha mit dem moderaten Südwest-Gouverneur Theodor Leutwein wegen seines brutalen Vorgehens geriet, nicht zumindest Hinweise für eine allerhöchste Anstiftung zum Genozid finden. Doch die Suche fördert nur Gegenbeweise zutage: Trothas explizite Erklärungen für Leutwein und den Generalstabschef Graf Schlieffen, die bis zur „Vernichtung“ gehende „rigorose Behandlung aller Teile der Nation“ der Herero auf „eigene Verantwortung“ zu erstreben. „Angesichts dieser Quellenlage“, so resümiert der Historiker, „ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Monarch Trotha einen direkten Genozidbefehl erteilte, verschwindend gering“. Ungeachtet dessen mündet Kreienbaums Studie nicht im Freispruch,  weil Kaiser Wilhelm II. mit seinen martialischen öffentlichen Reden jenen „diskursiven Rahmen“ für den kolonialen Massenmord geschaffen und jenes „Klima“ erzeugt habe, in dem Vernichtungs-praktiken zunehmend akzeptabel erschienen. Insoweit sei die Rede von des „Kaiser’s Holocaust“ also doch gerechtfertigt.

Gleichwohl sei zuzugeben, daß der Kaiser nie eine dominante Rolle in der Causa Deutsch-Südwest gespielt habe. Bereits im Frühjahr 1904, vor Beginn von Trothas Feldzug, verlor er jedes Interesse an diesem Krieg. Wie er auch wiederholt bekräftigte, ihm sei an Kolonien in Afrika gar nichts gelegen („Brauchen wir nicht“). Im Unterschied zu kolonialen Flottenstützpunkten im pazifischen Raum, wie dem 1898 erworbenen chinesischen Kiautschou. Diese benötige das Deutsche Reich, um auf dem 1896 eingeschlagenen „Neuen Kurs“ endlich von der Kolonial- zur Weltpolitik überzugehen und mit den USA und Japan um die „Lösung der großen Asiatischen Frage“ zu ringen.

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Otto Ehlers, „Vorstellung der Mandaraneger bei Kaiser Wilhelm durch den Afrikareisenden“, Holzstich um 1888: Man verzichtete konsequent darauf, das Berliner Schloß innenarchitektonisch als Zentrum eines Imperiums zu inszenieren