© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/24 / 13. Dezember 2024

Weshalb Remigration ein historischer Normalzustand ist
Der lange Weg nach Hause
Ludwig Witzani

Karl Marx hat die Revolutionen als die „Lokomotiven der Geschichte“ bezeichnet. Hätte er nicht auch die großen Völkerwanderungen nennen können? Migrationstheoretiker würden dem zustimmen. Für sie sind die Wanderungen der Völker die großen Wellen im Gezeitenkraftwerk der Weltgeschichte. Die germanische Völkerwanderung, die iberische Erschließung Lateinamerikas, die eurasische Wanderung der Turkvölker oder die millionenfache Auswanderung der Europäer im 19. Jahrhundert vollzogen sich wie Naturereignisse, die sich scheinbar jeder Art von Steuerung entzogen.

Diesem Determinismus folgen viele Migrationseuphoriker unserer Tage, wenn sie behaupten, daß Migration immer eine Einbahnstraße sei. Man kann allenfalls ihr Dressing verändern, indem man behauptet, sie wären immer und überall positiv und fortschrittlich und ein Segen für die Menschheit. Der Migrationspakt läßt grüßen.

Remigration, das heißt die Rückkehr in das Herkunftsland, wird dagegen in den herrschenden Diskursen als ein absolutes No-go geächtet. Schon das Reden über Remigration, das Unwort des Jahres 2023, rührt an ein Tabu, das jeden, der es verletzt, mit der sozialen Ächtung bedroht. Wer Remigration propagiert, so das Narrativ, öffnet die Pforten der Hölle.

Dabei ist es noch gar nicht so lange her, daß diese Pforten geöffnet waren und Millionen Menschen unter teilweise beschämenden Umständen in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt wurden. Die Rede ist von der Remigration aus den ehemaligen Kolonien nach 1945, einem vergessenen Stück Weltgeschichte, an das nur ungern erinnert wird.

Ausgangspunkt dieser Rückwanderung war die Auflösung der europäischen Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der ab den 1950er und 1960er Jahren fünf bis sieben Millionen Menschen in teils beschämender Form ihre Heimat verloren. Unter dem Einfluß antikolonialistischer Agitatoren vollzog sich eine ethnische Flurbereinigung, die nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen Menschen zurück in ihre Herkunftsländer führte, zu denen teilweise kaum noch Beziehungen bestanden.

Am schlimmsten traf es die Algerienfranzosen. Frankreich hatte im 19. Jahrhundert mit Marokko, Algerien und Tunesien weite Teile der nordafrikanischen Küste besetzt. Nachdem Tunesien und Marokko 1956 widerwillig in die Unabhängigkeit entlassen worden waren, erklärten die Franzosen in einem Akt trotziger Selbstbehauptung Algerien zu einem integralen Bestandteil des französischen Mutterlands. „L‘Algérie, c‘est la France“ verkündete der junge François Mitterrand als Minister der IV. Republik. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Algier und Oran über eine Million Franzosen, an der algerischen Küste wurde der gleiche Wein angebaut wie an der Côte d’Azur, und die besten Böden gehörten den französischstämmigen Siedlern.

In einem blutigen Kolonialkrieg zwischen 1956 und 1962 mit schrecklichen Ausschreitungen auf beiden Seiten belehrten die algerischen Unabhängigkeitskämpfer der FLN die Franzosen eines Besseren. Unter der Drohung „Koffer oder Tod“ mußten 1,4 Millionen Franzosen nach der Ausrufung der algerischen Unabhängigkeit das Land verlassen. Da sie nichts mitnehmen durften, zerstörten viele ihr Eigentum und verließen Algerien nur mit dem, was sie tragen konnten. Wer blieb, riskierte Leib und Leben. Allein in Oran kam es 1962 bei franzosenfeindlichen Pogromen zu über tausend Morden, von denen kein einziger von offizieller Seite verfolgt wurde. Radikale Ideologen wie der Marxist Frantz Fanon verherrlichten dergleichen Gewaltexzesse in ihren Schriften als Katalysatoren bei der Entstehung neuer, freier Nationen.

Auf der anderen Seite waren die Algerienfranzosen in Frankreich keineswegs willkommen. Verächtlich als „pieds noirs“ („Schwarz-Füßer“) bezeichnet, wurden viele von ihnen zu Angehörigen einer neuen Unterschicht am Rande der französischen Großstädte. Kein Wunder, daß die Nachkommen dieser Remigranten zu den treusten Wählern der Rechten wurden und ihrer verlorenen Heimat nachtrauerten. Ein wenig davon schwingt in Peter Scholl-Latours „Algerischem Stundenbuch“ mit, der Jahre nach der Vertreibung der Franzosen die nordafrikanische Küste besuchte. „Die Kolonistendörfer von einst waren ausschließlich von Arabern bewohnt. Wo die pieds noirs früher mit mediterraner Heiterkeit beim Pastis gelärmt hatten, saßen jetzt schweigende, in sich gekehrte Orientalen, die früh am Morgen einen Kaffee bestellten und den ganzen Tag in beschaulicher Untätigkeit verbrachten. In Zeralda wie in den meisten Ortschaften war die katholische Kirche mit Brettern vernagelt.“

Etwas anderes stellten sich die Verhältnisse bei der Auflösung des niederländischen Kolonialreiches im heutigen Indonesien dar. Hier lebten auf Java, Bali, Sumatra und den Molukken vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 100.000 Niederländer. Viele von ihnen waren als Angehörige der niederländischen Kolonialmacht während des Zweiten Weltkrieges vor den japanischen Invasoren geflohen. Der indonesische Unabhängigkeitskrieg führte noch einmal zu einer Rückwanderung von insgesamt 150.000 Niederländern, begleitet von zahlreichen Molukken, die die Niederländer in ihrem Kolonialkrieg gegen die Javaner unterstützt hatten.

Großbritannien, das seine Kolonien wenigstens im Ansatz auf die Unabhängigkeit vorbereitete und sie letztlich freiwillig entließ, war die einzige Macht, deren Bewohner in größerer Zahl in den ehemaligen Kolonialgebieten in Kenia, Indien, Pakistan, Malaysia, Hongkong oder Singapur bleiben konnten. Die nachkoloniale Geschichte zeigt übrigens, daß der rechtssichere Verbleib europäischer Minderheiten sich auf die demokratische Stabilität der neuen Staaten keineswegs negativ auswirkte, ganz einfach, weil die gut vernetzten weißen Minderheiten ausbeuterischen einheimischen Eliten erschwerten, Einparteiendiktaturen zu errichten.

Von allen Kolonialmächten hatte Portugal am längsten versucht, seine Überseebesitzungen zu behalten. Erst als die afrikanischen Kolonien Angola und Mosambik in den 1970er Jahren im Zuge blutiger Befreiungskriege und einer Revolution im Mutterland unabhängig wurden, kam es auch hier zu einer Rückwanderung von etwa einer halben Million Portugiesen.  In der Hochphase des Angolakrieges trafen zeitweise täglich tausend „Retornados“ (Rückkehrer) über eine Luftbrücke in Portugal ein. Für Besucher Lissabons der späten siebziger Jahre gehörte damals der Anblick der Zeltstädte der Retornados an der Peripherie der Hauptstadt zum gewohnten Anblick.

Mit der Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien im afrikanischen Süden hatte auch die Stunde der Europäer in Südafrika geschlagen. Nach der Wende am Kap und der Machtübernahme des ANC in Südafrika verließen ab 1991 weit über eine Million Weiße die südafrikanische Union. Die meisten kehrten nach Großbritannien zurück, viele aber gingen auch nach Australien und Neuseeland. Allerdings hat sich auch in der südafrikanischen Kapprovinz eine nennenswerte weiße Minderheit bis heute erhalten, die ihr Möglichstes tut, die autoritären Tendenzen des herrschenden ANC zu bekämpfen. Wie heikel sich das Leben der weißen Minderheit im Alltag darstellt, hat der südafrikanische Nobelpreisträger J. M. Coetzee in seinem Roman „Schande“ eindringlich beschrieben.

Daß nach dem Zusammenbruch der Kolonialreiche die Angehörigen der ehemaligen Herrenschichten remigrieren müssen, bewahrheitete sich auch nach dem Untergang der Sowjetunion nach 1991. Nach der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgisistan und Kasachstan verließen zwischen 1992 und 2009 2,5 Millionen Russen Zentralasien, um nach Rußland zurückzukehren. 

Das damit verbundene Leid und die endlose Liste zerbrochener Lebensentwürfe tauchen in keiner Statistik, sondern nur in der Literatur auf. In Andrej Wolos „Curramobod – Stadt der Freude“ wird die schrittweise Ausgrenzung und Stigmatisierung der russischen Minderheit in Tadschikistan beschrieben, bis es die meisten nicht mehr aushalten und das Land verlassen.

Wie unterschiedlich das Phänomen der Remigration betrachtet wird, je nachdem, wer Opfer und wer Täter ist, zeigt nicht zuletzt die erzwungene Ausweisung von 850.000 Juden aus arabischen Ländern zwischen 1947 und 1970. Diese „zweite jüdische Nakba“ gehört zwar nicht in die europäische Remigrationsgeschichte, und es handelte sich auch nicht wirklich um eine Remigration, der Vorgang verdeutlicht aber im Kontrast zum aktuellen palästinensischen Flüchtlingsproblem sehr plastisch die Doppelstandards, die beim Phänomen der Remigration gerne angewendet werden.

Die Ausweisung der Juden aus den arabischen Ländern vollzog sich als gewaltsame Expatriierung und betraf eine Bevölkerungsgruppe, die seit Jahrhunderten in arabischen Ländern ansässig gewesen war. Die Regierungen dieser Länder, die in der offenen militärischen Konfrontation Israel nicht gewachsen waren, ließen ihren Zorn an ihren wehrlosen jüdischen Bürgern aus, unterwarfen sie Enteignungen und Pogromen bis hin zur gezielten Ermordung. Aus dem Jemen mußten 1949 die Juden mit einer Luftbrücke („Aktion fliegender Teppich“) überstürzt ausgeflogen werden, um einem genozidalen Massaker zuvorzukommen.

Im heutigen Nahostkonflikt ist allerdings nur von einer ganz anderen Remigration die Rede, nämlich der Forderung eines Rückkehrrechts der 700.000 palästinensischen Flüchtlinge, die 1948/49 während des ersten Nahostkrieges aus Israel geflohen warfen. Da über die Vererbung des Flüchtlingsstatus inzwischen aus den 700.000 palästinensischen Flüchtlingen der Jahre 1948/49 eine Bevölkerung von 5,6 Millionen geworden ist, würde deren Remigration das Ende des Staates Israel bedeuten. Gleichwohl erscheint sie als zentrale Forderung auf jeder linken propalästinensischen Agenda.

Überblickt man im Abstand von mehreren Generationen die Geschichte der europäischen Remigration, dann erscheint sie, abgesehen von ihren gewalttätigen Begleiterscheinungen, im Vergleich zur aktuellen muslimischen Massenmigration nach Europa fast wie ein Sturm im Wasserglas. Auch wenn die Zahl der Zuwanderer unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg oft als schockierend hoch empfunden wurde, wirkt sie im Vergleich zu den heutigen Zuwanderungszahlen geradezu bescheiden.

Auch was die Integration der Zuwanderer in die heimische Ökonomie betrifft, sind die Verhältnisse kaum vergleichbar. Von einer vergleichbaren Alimentierung der Neuankömmlinge, wie sie heutige Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten erfahren, hätten die „pieds noirs“ und die „Retornados“ nur träumen können. Allerdings funktionierte die Integration der Remigranten besser. Nach weniger als einem Jahrzehnt hatten die Muttergesellschaften die europäischen Zuwanderer absorbiert. Davon wird man bei der gegenwärtigen Massenzuwanderung nach Europa nicht ausgehen können.

Denn inzwischen haben sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt. Europa sieht sich einer weitgehend ungesteuerten, millionenfache muslimischen Massenzuwanderung gegenüber, die in Gänze die Funktionsfähigkeit der europäischen Staaten bedroht. Das politische Steuerungsinstrument der Remigration kann deswegen den europäischen Regierungen nicht rundheraus verweigert werden, auch wenn es nicht in der Brutalität angewandt werden sollte, denen die Europäer selbst nach dem Zweiten Weltkrieg unterworfen waren.

Etwa eine Million Syrer suchen derzeit in Deutschland Zuflucht. Nach dem Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad spricht prinzipiell nicht sagegen, sie zur Rückkehr in ihre Heimat zu ermuntern.



Dr. Ludwig Witzani, Jahrgang 1950, studierte Geschichte, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Philosophie und Psychologie in Köln, arbeitete im höheren Schuldienst und lebt zur Zeit als freier Reiseschriftsteller in Bonn.