In der 1642 von beiden Häusern des britischen Parlaments verabschiedeten Deklaration hieß es unmißverständlich: „Es wird anerkannt, sagte die parlamentarische Doktrin, daß der König die Quelle der Gerechtigkeit und des Schutzes ist, aber die Handlungen der Justiz und des Schutzes werden nicht von seiner Person ausgeübt und hängen nicht von seinem Gefallen ab, sondern von seinen Gerichten und Ministern, die hier ihre Pflicht tun müssen, auch wenn es ihnen der König in seiner eigenen Person verbieten sollte: und wenn sie gegen den Willen und persönlichen Befehl des Königs Urteile fällen, sind es immer noch Urteile des Königs.“
Das war gerichtet an die Adresse von Karl I., geboren 1600, König von England seit 1625. Karl hatte versucht, durch häufige Auflösung (1625, 1626, 1629, 1640) und bewußte Nichteinberufung (1629–1640) des Parlaments absolutistisch zu regieren. Außenpolitisch lehnte er sich an Spanien an und negierte damit die Interessen der aufstrebenden Gentry-Bourgeoisie – des reichen Bürgertums, das sich mit dem Kleinadel vermischte –, die eine Expansion nach Übersee gegen Spanien betrieb. Eigenmächtige Personalentscheidungen, unnötige politische und religiöse Konflikte und schließlich der Versuch, Parlamentsmitglieder zu verhaften, führten 1642 zum Bürgerkrieg.
Das Parlament dekretierte hier, daß der Inhaber des Königtums, das ihm qua Geburtsrecht zugefallen war, dieses nur treuhänderisch verwaltete. Ernst Kantorowicz hat das in seinen Buch „Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur Theologie des Mittelalters“ als die Doppelnatur des Königs beschrieben. Sie besteht aus einem leiblich-sterblichen und einem unsterblich-politischen Körper. Der politische Körper war „größer und weiter als der natürliche“, ein Symbol für den Staat, für das Reich und das Ebenbild der „heiligen Geister und Engel“ – eine Formulierung, welche die sakrale Dimension hervorhebt und daran erinnert, daß die politischen Begriffe auf die Theologie zurückgehen. Um dem Königtum gerecht zu werden, mußten die amtierenden Monarchen mit dem natürlichen hinter den politischen Körper zurücktreten. Dann kam die königliche Majestät mit der Majestät des Staates zur Deckung und vollzog sich – in den Worten des Historikers Jean Rudolf von Salis – die „Menschwerdung“ des Patriotismus und der Gesetzestreue. Die Einheit beider Körper rechtfertigte das Delikt der Majestätsbeleidigung – die Säkularisierung des Blasphemie-Vorwurfs –, denn wer sich an der Person des Königs verging, verging sich automatisch am Gemeinwesen.
Die Integrität dieser Einheit unterlag einer permanenten Prüfung. Verfehlte das königliche Individuum seine Aufgabe, sei es durch Hybris, Unfähigkeit oder Eigensinn, zog der politische Körper sich von ihm zurück. Der König schrumpfte zur leiblichen Person und durfte als solche aus dem Spiel genommen werden. Die königliche Autorität ging, wie der Beschluß von 1642 festhielt, an das Parlament, an die Minister und Gerichte über.
Das Parlament war damals ein Erbhof der Aristokratie. Demokratie aber bedeutet Volkssouveränität. Laut Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt „vom Volke“ aus, so daß die „Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ als Volksbeauftragte tätig sind. Die parlamentarische Demokratie entfaltet sich im Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition. Letztere bringt die Defizite der Regierung zur Sprache und empfiehlt sich als die bessere Alternative. Der erste Schauplatz der Auseinandersetzung ist das Parlament, die unabhängigen Medien machen sie zur allgemeinen, öffentlichen Angelegenheit. Die Judikative sorgt dafür, daß es fair zugeht und die Regeln eingehalten werden. In der säkularen Republik wie in der parlamentarischen Monarchie ist die sakrale Aura des Staatsoberhaupts verschwunden oder zum Zitat verblaßt, weshalb die Strafbarkeit der Majestätsbeleidigung hinfällig ist.
Dennoch haben einige Republiken, darunter die Bundesrepublik, den Tatvorwurf modifiziert übernommen. Paragraph 90 Strafgesetzbuch betrifft die „Verunglimpfung des Bundespräsidenten“. Es erklärt sich aus der neueren Geschichte, daß der junge Staat das Bedürfnis hatte, in der unantastbaren Dignität seines Oberhaupts sich seiner selbst zu versichern. Doch schon der erste Bundespräsident Theodor Heuss meldete Zweifel an und fragte ironisch, „wann es staatspolitisch notwendig ist, daß ich mich beleidigt fühle“.
Dahinter steht auch ein struktureller Widerspruch: Das Staatsoberhaupt wird durch politische Konjunkturen und Zufallsmehrheiten ins Amt getragen. Das ist so lange kein Problem, wie der Gewählte die Fähigkeit besitzt, über seine parteipolitische Befangenheit hinaus- und in die neue Aufgabe hineinzuwachsen. Anders verhält es sich, wenn er alternative Bewegungen und Parteien, die sich gegen eine ideologieversessene, inkompetente, autoritäre Regierung formiert, sowie gegen eine Scheinopposition, die das neoabsolutistische Machtverständnis grundsätzlich teilt, aus der res publica auszuschließen versucht und mit Stigmata belegt. Dann schrumpft er auf den leiblich-sterblichen Körper des gewöhnlichen Parteiaktivisten und Karrierepolitikers, und es gibt wie 1642 keinen Grund mehr, „seiner eigenen Person“ und „seinem Gefallen“ besondere Achtung zu erweisen.
In einer Demokratie fällt der politischen Klasse die Rolle zu, die in der Feudalmonarchie der König innehatte, während der Demos in die Kontrollfunktion eintritt, die einst das englische Parlament gegenüber dem König einnahm. Der Demos besitzt das permanente Prüfungsrecht, ob die politische Klasse ihre dienende Funktion wahrnimmt und willens und fähig ist, das Gemein- und Staatswohl zu schützen und zu mehren, die anstehenden Probleme zu erkennen, zu diskutieren und anzupacken. Das war und ist in den Fragen der Zuwanderung, des Ukraine-Kriegs, der Corona-Restriktionen, der Energie- und Mobilitätswende usw. eindeutig nicht der Fall, was natürlicherweise Widerspruch und Widerstand hervorruft.
Um sich dagegen zu schützen und abzuschotten, sind Politiker der etablierten Parteien dazu übergegangen, das unzeitgemäße präsidiale Privileg auf sich auszudehnen. Dazu bedienen sie sich des Paragraphen 188 StGB: „Wird gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) eine Beleidigung (§ 185) aus Beweggründen begangen, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen, und ist die Tat geeignet, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Das politische Leben des Volkes reicht bis hin zur kommunalen Ebene.“ Entsprechende Anzeigen haben Abmahnungen, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Prozesse und Geldstrafen zur Folge.
In der Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik wird die Praxis gerechtfertigt: „Der Zusammenhang zwischen ehrverletzenden Äußerungen gegen Personen des politischen Lebens und der Funktionsfähigkeit des politisch-demokratischen Gemeinwesens besteht zum einen darin, daß derartige Beleidigungstaten in einem ersten Schritt den guten Ruf, die Glaubwürdigkeit und die Integrität des einzelnen politischen Akteurs beschädigen können, und darüber vermittelt in einem zweiten Schritt potentiell auch die Glaubwürdigkeit, Integrität und Funktionsfähigkeit des politisch-demokratischen Systems insgesamt.“ Es gehe nicht um den „individuellen Ehrschutz im Sinne einer besonders geschützten Politikerehre“.
Jeder Satz ließe sich im Handumdrehen widerlegen, doch was würde es nützen? Es spricht die Tautologie der Macht. Es geht darum, Machtkritik auszuschalten und zu verhindern, daß die Qualität und Beschaffenheit der politischen Klasse zum Gegenstand öffentlicher Erörterung wird. Satire und Polemik sind für den Bürger eine der wenigen Möglichkeiten, sich gegenüber den Machthabern, die mit ihren Entscheidungen unmittelbar auf ihr Leben einwirken, vernehmbar zu machen. Jenen stehen die großen Medien zur Verfügung, um Bürger straflos als Covidioten, Schwurbler, Schmeißfliegen oder Pack zu bezeichnen. Der Paragraph dient um so mehr der Disziplinierung und Einschüchterung, weil die Justiz sich nicht mehr als Schiedsrichter, sondern zunehmend als verlängerter Arm der Exekutive versteht.
Als Anzeigenhauptmeister haben sich Außenministerin Baerbock, Wirtschaftsminister Habeck und die als Militärexpertin dilettierende FDP-Frau Strack-Zimmermann hervorgetan, was kein Zufall ist, denn bei diesen drei Politikern ist die Kluft zwischen dem Anspruch, den sie erheben, und ihrer Befähigung besonders tief. Baerbock versteht nichts von Diplomatie, Habeck nichts von Wirtschaft und Strack-Zimmermann nichts vom Krieg. Die eine schnattert, der andere knetet Luft, und die Dritte gefällt sich als keifende „Oma Courage“. Die Brecht-Figur, auf die sie sich bezieht, betrachtet den Krieg als Geschäftsmodell („Ich laß mir von euch den Krieg nicht madig machen.“) und verliert am Ende alles, auch ihre Kinder.
Der jugoslawische Dissident Milovan Djilas (1911–1995), der in seiner Jugend ein gläubiger Kommunist war, hat 1954 in dem gleichnamigen Buch dargelegt, wie die roten Funktionäre, kaum an die Macht gekommen, sich als „Neue Klasse“ formierten. Macht und Besitz waren für sie identisch, das heißt, ihr sozialer Aufstieg und ihre materiellen Vorteile waren unmittelbar an den Machtbesitz gebunden. Einen vergleichbaren Status durch wertschöpfende Arbeit zu erreichen, wären die wenigsten Parteibonzen imstande gewesen. Die hehre Sache des Sozialismus verkam zum Vorwand, der ihren Machtbesitz legitimierte. Die „Neue Klasse“ stand selbst auf der Gewinnerseite, „wenn die Nation als Ganzes dabei verlor“. Man braucht nur „Sozialismus“ durch „Demokratie“ zu ersetzen, und es fällt leicht, Djilas’ Schilderungen auf das Hier und Heute zu übertragen.
Shakespeares Historiendrama „Richard II.“ zeigt das Scheitern eines Königs. Richard (1367–1400) lag im Streit mit dem Parlament, wurde ab- und gefangengesetzt und vermutlich ermordet. Im Drama erscheint er als wankelmütiger und intriganter Regent. Zunächst gibt er sich überzeugt, daß Gott die Hand über ihn hält und ermahnt sich: „Ja, ich vergaß mich selbst: bin ich nicht König? / Erwache, feige Majestät! Du schläfst!“ Doch er wird der königlichen Würde mehr und mehr entkleidet und sieht ein, daß er dem Amt nicht gewachsen ist: „Mit eignem Mund leugn’ ich mein heil’ges Recht, / Mit eignem Odem lös’ ich Pflicht und Eid, / Ab schwör ich Pracht und Majestät.“ Schließlich löst die Einheit der zwei Körper sich gänzlich auf. Das Individuum, das zum Verräter am politischen Leib geworden ist, stürzt ins Bodenlose: „Ich habe keinen Namen ... / Und weiß nun nicht, wie ich mich nennen soll.“ Im Angesicht des Todes erlebt Richard jedoch eine Katharsis: „Auf, auf, mein Geist, den hohen Sitz zu erben, / Indes mein Fleisch hier niedersinkt, zu sterben.“
Soviel Einsicht und Reue ist von den aktiven Politikern wohl nicht zu erwarten. Aus Angst vor sozialem Abstieg und in der Furcht, vom Demos mit den Konsequenzen ihres Handelns konfrontiert zu werden, nehmen sie die überpersönliche Würde des Staates in Anspruch, um sich der Debatte und der Gefahr der Degradierung zu entziehen. Ihr schwaches, sterbliches Ego bläht sich auf und behauptet seine Identität mit dem unsterblichen politischen Körper. Wer die Deckungsgleichheit bezweifelt, macht sich der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ schuldig.
Dieser postdemokratische Neoabsolutismus, der sich kraft eigener Machtvollkommenheit unter Bestandsschutz stellt, ist lächerlich, aber auch gefährlich. Denn er wirkt auf längere Sicht ruinös und überantwortet den staatlichen Körper der Sterblichkeit und der Verwesung. Im alten England ging es vernünftiger und demokratischer zu.
Karl I. wurde vom Parlament wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und am 30. Januar 1649 hingerichtet. Seine letzten Worte lauteten: „Ich bin ein Märtyrer des Volkes.“ Was für eine Verblendung und Anmaßung bis zum Schluß.
Bild: Die überzeitliche Majestät und ihre Narren: Einsicht und Reue ist von den heute aktiven Politikern kaum zu erwarten