© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/24 / 13. Dezember 2024

Beim Endziel herrscht Uneinigkeit
Syrien: Der Nahost-Experte Ferhad Seyder über den Sturz des Assad-Regimes, die neuen Herrscher und mögliche Stabilität
Curd-Torsten Weick

Nur ein paar Tage und die Herrschaft von Machthaber Baschar al-Assad war am Ende. Was sind die Ursachen für den schnellen Fall?

Ferhad Seyder: Die erdrückende Wirtschaftskrise Syriens und der Ukrainekrieg  spielten eine wichtige Rolle. Das syrische Regime verfügte über keine eigene Ressourcen mehr. Letztlich konnten der ausufernde Sicherheitsapparat und die Armee nicht mehr finanziert werden. Der Sold der Offiziere und Soldaten war für das Überleben nicht mehr ausreichend. Al-Assad kontrollierte zwar die vier wichtigen Städte des Landes, Damaskus, Aleppo, Hama und Homs, aber er war ein Vasall der Russen und der Iraner, die ihn seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges 2011 unterstützten. Gerade in den vergangenen zwei Jahren war deren Unterstützung eine Existenzfrage. Doch der Iran verstrickte sich in einem riskanten Konflikt mit Israel. Zudem war Teheran an drei Fronten, Gaza, Libanon, Jemen und auch in Syrien aktiv. Seit Monaten sah es so aus, daß Teheran seine Vasallen Hamas, Hisbollah und Assad nicht mehr unterstützt. Rußland konnte seinerseits wegen des anhaltenden Kriegs in der Ukraine das Regime von Damaskus nur noch minimal unterstützen.

Ein Abkommen zwischen Rußland und der Türkei hatte die Lage im Nordwesten seit 2020 weitgehend stabilisiert. Es heißt, Ankara habe seine wachsende Frustration darüber zum Ausdruck gebracht, daß es al-Assad nicht gelungen sei, mit der Opposition eine Einigung zur Beendigung des Konflikts zu erzielen. Stimmt das? Welche Rolle spielt die Türkei?

Seyder: Das Abkommen von 2020 diente vor allem der Stabilität der Region Idlib, mit seinen vier Millionen Einwohnern. Diese  stand jedoch unter Kontrolle der islamistischen Hai’at Tahrir al-Scham (HTS). Die Beziehungen zwischen Ankara und den oppositionellen Kräften – vor allem der Freien Syrische Armee (FSA) und dem Nationalen Syrischen Rat –  waren nicht immer harmonisch. Die Beteiligung einiger FSA-Kräfte, die Ankara direkt unterstützt, an den Zusammenstößen in Aleppo auf seiten der HTS und ihr Einmarsch in Tel Rifaat zeigen, daß die Türkei sich nicht aus dem Putsch heraushält.

Auch Israel war Assad ein Dorn im Auge? Welche Interessen leiten Israel in Syrien?

Seyder: Israels Politik nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges gegenüber dem Regime von Damaskus ist in zwei unterschiedliche Phasen zu unterteilen. Von 2011 bis 2016 schien es, als ob Israel nicht unbedingt für den Sturz al-Assads war. Die syrisch-israelische Frontlinie war auffallend ruhig. Vor allem eine Machtübernahme durch Islamisten barg für Israel Risiken in sich. Als der Iran seine Präsenz ab 2016 in Syrien verstärkte, die Hisbollah über die Route Irak, Syrien, Libanon massiv ausbaute und sogar eigene Milizen in Syrien stationierte, versuchte Israel durch gezielte Angriffe  die iranische Präsenz in der Region zu neutralisieren. Israel war nun nicht mehr der Auffassung, daß Assad der kleinere Übel sei. Es liegen aber keine Fakten vor, daß Israel die syrische Opposition direkt unterstützte. Dennoch verlegte Israel Truppen auf südsyrisches Gebiet.

Im Brennpunkt des Geschehens steht die Organisation HTS. Was ist deren Ideologie und was sind deren Ziele für Syrien?

Seyder: HTS wurde und wird von Katar unterstützt. Dem Emirat geht es darum, Saudi-Arabien, das bis dato die HTS als neusalafistische Gruppe ablehnt, Paroli zu bieten. Schon seit Monaten galten die bis zu 20.000 HTS-Kämpfer als militärisch besser ausgebildet und ausgerüstet als Assads Armee. Die USA und Iran sowie Rußland wurden als Feinde definiert. Anfänglich war die Errichtung einer islamischen Ordnung Ziel des HTS. Doch scheinen sich deren Führer allmählich an einem moderaten Islam zu orientieren. Ziel sei nun ein „Ziviler Staat“ (Dawla Madaniya), eine tolerante Haltung zu den syrischen nicht-islamischen Minderheiten und größere Freiheiten für die Frauen, so die neuen Machthaber. Es ist aber noch nicht klar, ob dies ein taktischer Zug der Mäßigung, oder ein Wandel der salafistischen und dschihadistischen Gruppen ist, die sich zum Sturz Assads vereint hatten. 

Welche Rolle spielen die Kurden?

Seyder: Seit der Gründung der kurdischen  Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) plädierte die Partei der Demokratischen Union in Syrien (PYD), die die kurdischen Milizen anführt, für eine demokratische und föderale Ordnung für Syrien, unter anderem als Lösung für die Minderheitenfrage und zur Partizipation der Regionen in der politischen Ordnung. Doch auch jetzt, wo die Eroberung von Damaskus als ein möglicher neuer Beginn betrachtet wird, gibt es weiter Kämpfe zwischen der Türkei und der SDF. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß die HTS den Föderations- und Demokratisierungsgedanken der SDF ablehnt. Da die USA seit 2014 in der Region die SDF-Streitkräfte unterstützen, ist die Lösung dieser Frage für HTS als essentiell zu betrachten.

Moskau vertritt die Ansicht, daß nun die Vereinten Nationen die Gespräche über die Zukunft Syriens überwachen sollten. Die einzige Option?

Seyder: Alle Oppositionskräfte Syriens wollten letzten Endes einen Regimewechsel bewirken. Über das Endziel herrschte schon von Anbeginn an kein Konsens. Die Säkularisten, um die liberalen Kräfte unter einem Begriff zu subsumieren, wollen eine demokratische Ordnung ohne Diskrimierungen und den Neuaufbau staatlicher Institutionen. Die Kurden streben eine föderative demokratische Ordnung an. Die Islamisten werden ihr Ziel der Errichtung eines „Zivilen Staates“ möglichst mit islamistischen Inhalten füllen wollen. Auch die externen Akteure scheinen wenig einig. Die arabische Welt, die Türkei und auch die UN befürworten freie Wahlen und andere nationsbildende Maßnahmen. Dies wäre die beste Lösung für das geschundene Land. Das Worst-Case-Szenario wäre eine radikale islamistische Lösung, die sicher zur Fortsetzung des Krieges führen wird.




Prof. Dr. Ferhad I. Seyder war unter anderem von 2012 bis 2019 Leiter der Kurdischen Studien an der Uni Erfurt. Seine neueste Veröffentlichung: „Between Diplomacy and Non-Diplomacy – Foreign Relations of Kurdistan-Iraq and Palestine“

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