Als ich 1992 zum ersten Mal für einige Jahre nach Wien kam, haben mich die Leute komisch angeschaut, weil ich ein süddeutsch gefärbtes Hochdeutsch sprach. Jetzt schauen sie komisch in der U-Bahn und „BIM“ (Straßenbahn), wenn ich in jener seither dominierenden slavo-türko-arabischen Migrantenpopulation vor Ort überhaupt noch deutsch spreche.
Der Weihnachtsmarkt vor dem Wiener Rathaus ist von Pollern massiv geschützt. Es herrschen Oktoberfestpreise. Ein Glas Punsch für 13 Euro. Glückliches Besaufen, Shoppen und ein Kater danach wie früher geht sich nicht mehr aus. Als Fehlkauf leiste ich mir doch noch eine Curry-Wurst für sechs Euro. Sie stellt sich als ein geschmackloses veganisches Nichts mit Ketchup heraus. Ich verlasse die ungastliche Touristenfalle.
Als Ersatz dafür dient ein „Herzerlflug“ als Live-Spektakel. Ab Einbruch der Dunkelheit fliegt zu jeder vollen Stunde ein Herz über den Markt. Der Herzerlflug beginnt, indem das Christkind sein großes Herz von einem Turm aus losschickt. Dieses schwebt über den Köpfen der Besucher auf einem 75 Meter langen Seil hinweg Richtung Herzerlbaum. Jöh.
Doch in den Wiener Kaffeehäusern ist die Welt noch in Ordnung. Ich besuche nacheinander das „Dommayer“ im noblen Hietzing, wo meine Familie damals wohnte. Dann den „Tirolerhof“ in der Innenstadt und das „Café Westend“ am Westbahnhof. Das Schöne dort ist, daß niemand der Besucher aller Klassen, Geschlechter, Schichten und Altersgruppen auf sein Handy schaut, wie sonst in den Öffis. Alle sind in ihre Gespräche oder – falls vorhanden– in ihre Zeitungen vertieft.
Die Brandmauer ist bei über 30 Prozent für die FPÖ nur noch ein schlechter Witz, und der Volkszorn urgewaltig.
Ich spiele den Kaffehaus-Literaten. Dennoch überhört man spannende Debatten: Was passiert, wenn die aktuellen Dreier Koalitionsgespräche platzen? Wer stürzt als erster: Der FPÖ-Hasser Karl Nehammer, der sich von seiner niederösterreichischen Machtbasis aus Eitelkeit entfernt hat, oder der linkssozialistische Andi Babler, ein bekennender Marxist, von dem sich ein Großteil des SPÖ-Partei- und Gewerkschafts-Establishments längst verabschiedet hat? Oder werden die verfemten Blauen wie der Wahlsieger Mario Kunasek in der Steiermark es doch noch richten, wo Schwarz und Rot um seine Gunst als künftigen Landeshauptmann derzeit buhlen, um nach seinem Wahlsieg alternativ ein wenig weiter an den Futtertrögen der Macht mitnaschen zu können?
Die Brandmauer ist bei über 30 Prozent für die FPÖ nur noch ein schlechter Witz, und der Volkszorn urgewaltig. Im Januar stehen Wahlen im roten Burgenland und schwarzen Niederösterreich bevor. Aus Berliner Sicht vielleicht sehr ferne, aber aus österreichischer Sicht sind es bevorstehende politische Erdbeben. Wie man in Wien so schön sagt: „Schau ma moi.“