© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/24 / 13. Dezember 2024

Syrischer Blitzkrieg
Machtübernahme in Damaskus: Wie konnten die von der Türkei und den USA koordinierten Truppen Assads Männer so schnell überrennen? Wie steht es um die anderen Mächte, die in dem zwölfjährigen Bürgerkrieg mitmischten?
Marc Zoellner

Man stelle sich vor, es sei plötzlich Krieg und alle Soldaten gingen einfach heim: Derartige Szenen von Regierungstruppen, die auf offener Straße ihre Uniformen ablegten und sich unter die Zivilbevölkerung mischten, wurden in den vergangenen Tagen tatsächlich in Syrien gefilmt – und nicht nur an entlegenen Frontabschnitten, sondern vielmals und kriegsentscheidend vor allem auch in den Großstädten Damaskus, Hama und Homs. 

Letztere, rund 150 Kilometer nördlich der Hauptstadt Damaskus gelegen, sollte der Assad-treuen „Syrisch-Arabischen Armee“ (SAA) eigentlich als Bollwerk gegen die vorrückenden Rebellentruppen der „Hai’at Tahrir al-Scham“ (HTS), einer islamistischen Gruppierung aus dem Nordwestgouvernement Idlib dienen. Diese war als Al-Quaida-Ableger gestartet und genießt wenig Unterstützung unter den Golfstaaten, da sie als eine Art neuer Islamischer Staat gilt. Auch die „Syrische Nationale Armee“ (SNA), eine vormals an der Grenze zur Türkei agierende, moderate islamische Miliz rückte darauf vor.

Zwei Tage lang konnte die Armee Assads ihre Stellungen nördlich von Homs halten. Doch mit der „Südfront“ sowie der „Al-Jabal Brigade“, einer drusischstämmigen Rebellenmiliz, sowie der „Syrischen Freien Armee“ (FSA) standen zeitgleich bereits drei kampferprobte Widerstandsgruppen in den südlichen und östlichen Vororten von Damaskus bereit. Zusätzlich war die Moral der Truppe extrem geschwächt. Berichte besagen, daß Assads Sold zu spärlich floß. Die Kurden hatten seit langem zusammen mit der SFA im Norden Ölfelder besetzt.

Letztere Miliz hatte sich seit November 2015 in den Wüstenregionen an der Grenze zu Jordanien verschanzt gehalten, um von dort aus mit logistischer Unterstützung der USA ihre Einsätze gegen die – später gleichsam in der Wüste untergetauchte – radikalislamische Terrorgruppe „Islamischer Staat“ auszuführen. Aus ersteren beiden, die ebenso von den USA unterstützt werden, sollte sich am 6. Dezember das „Südliche Operationsgebiet“ (GAA) formieren; eine Dachorganisation moderater Rebellen und jener der drusischen Minderheit in Syrien, die sich aufgrund ihres Anteils an der Einnahme Damaskus auch ein nennenswertes Gewicht in der syrischen Übergangsregierung erhoffen.

Der türkische Präsident heizt den Konflikt weiter an

Mit dem 41jährigen Ingenieur Mohammed al-Bashir, der sich als Ministerpräsident in der Zivilverwaltung des Rebellengouvernements Idlib seine politischen Sporen erworben hatte, benannte die HTS diesen Montag im nicht von ihr kontrollierten Damaskus zwar schon einmal provisorisch einen neuen Ministerpräsidenten für ihre gesamtsyrische Übergangsregierung. Der HTS-Führer Mohammed al-Dschaulani (siehe auch Seite 3) hatte es sich in Manier der einstigen Abbasiden-Khalifen nicht nehmen lassen, das Ende des Bürgerkriegs in der großen Moschee von Damaskus auszurufen. Bilder, die stark an die Proklamation des Islamischen Staates durch Abu Bakr al-Baghdadi erinnerten.

Doch welche Fraktionen an der neuen Regierung teilhaben werden, wird wohl nicht vor Januar entschieden sein. Zwar ruhen in den meisten Teilen des Landes die Waffen. Doch im Norden kämpfen HTS und SNA als Verbündete der benachbarten Türkei mit den „Demokratischen Kräften Syriens“ (SDF), einem kurdischen Dachverband, welchen wiederum die „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) dominieren, um die Stadt Manbidsch. Die Türkei erachtet die YPG als den syrischen Vertreter der kommunistischen Terrorgruppe der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), welche seit 1978 einen blutigen Untergrundkrieg gegen die aus ihrer Sicht türkischen Besatzer Kurdistans führt (siehe auch Seite 10).

Zwischen 2016 und 2019 errichtete die Türkei in insgesamt drei Bodenoffensiven mehrere „Schutzkorridore“ im syrischen Teil der gemeinsamen Grenze, insbesondere mit Hilfe der SNA. Im August 2016 konnte Manbidsch durch Kurden vom IS-Kalifat befreit werden. Das erklärte Vorhaben Ankaras, seine voneinander getrennten Grenzkorridore via Manbidsch zu schließen, wurde im Oktober 2019 nur durch die vorangehende Besatzung der Stadt durch Assad-Truppen sowie ihre russischen Verbündeten – auf Wunsch der Kurden hin – verhindert. Nach einem Bombardement der Innenstadt durch türkische Flieger rückt die SNA seit diesem Montag erneut auf Manbidsch vor und liefert sich hierbei schwere Gefechte mit der SDF.

In Manbidsch auf dem Rückzug, im Gouvernement Deir ez-Zor an der Grenze zum Irak auf dem Vormarsch, erfährt die kurdische SDF wie schon in den vergangenen Jahren Rückendeckung der USA. Den Milizen von HTS und SNA drohte Washington bereits mit Konsequenzen, sollten diese weiter auf kurdisch dominiertes Territorium „einschließlich des westlichen Ufers des Flusses Euphrat“ vorrücken – und stellte sich damit gegen das Hegemonialstreben des eigenen Nato-Partners Türkei. Nördlich von Deir ez-Zor mit insgesamt 900 Mann Truppenstärke stationiert, beschränken sich die USA derzeit auf Luftschläge gegen IS-Verstecke in der Wüste. Der designierte US-Präsident Donald Trump erklärte vorab, sein Land aus dem Syrischen Bürgerkrieg heraushalten zu wollen.

Großangelegte Bombardements fliegen seit vergangenem Wochenende auch die Israelischen Luftstreitkräfte (IAF). Der Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad kam für die Regierung in Jerusalem ebenso überraschend wie unerfreulich. Zwar hatte Syrien dem Staat Israel bereits im Mai 1948 den Krieg erklärt und seitdem keine Friedensofferte angeboten. Spätestens mit dem Ausbruch des Syrischen Bürgerkriegs im März 2011 galt Assad jedoch mit seinem eigenen Machterhalt beschäftigt, sein Land nur noch als Durchlaufstation iranischer Waffen an die libanesische Hisbollah-Miliz. 

Assad, selbst von islamistischen Rebellen bedroht, fungierte in dieser Zeit als Jerusalems Garant für sichere Grenzen zu den von Israel besetzten Golanhöhen. Mit seiner Flucht nach Moskau hinterließ der ehemalige syrische Diktator nicht nur ein innenpolitisches Machtvakuum, welches nun von teils gemäßigten und teils von radikalen Islamisten beansprucht wird, sondern ebenso die Waffenlager einer hochgerüsteten syrischen Armee. 

Israel indes hat die Lehre aus dem US-Rückzug und der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gezogen: Tagtäglich nimmt die IAF Munitionslager und schwere Waffen sowie geparkte Panzer und Kampfflugzeuge im nördlichen Nachbarland ins Visier, damit diese nicht in die Hände der HTS oder noch radikalerer Kräfte fallen. 

Am Sonntag verkündete Ministerpräsident Benjamin Netanjahu überdies die Lösung der im Mai 1974 zwischen Israel und Syrien beschlossenen Rückzugsvereinbarungen auf den Golanhöhen, welche den im Oktober 1973 von Ägypten und Syrien ausgelösten Jom-Kippur-Krieg beendet hatten. Israelis besetzen seit Montag erneut den strategisch höchsten Gipfel Syriens, den Hermon-Berg, und vergrößern ihre Pufferzone auf den Golanhöhen.

Rückschlag für Moskaus weltweite Engagements

Der Zusammenbruch dürfte weiteren Verdruß in der Region erzeugen. Die Arabische Liga hatte den syrischen Machthaber Assad nach zwölf Jahren außenpolitischer Ächtung im Mai 2023 erstmals wieder zu einem gemeinsamen Treffen eingeladen – und steht nun vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen regionalen Sicherheitspolitik. Von den rasanten Entwicklungen in Damaskus förmlich überrollt, blieb den Golfstaaten, die sich vergangenen Samstag in Doha zu gemeinsamen Konsultationen mit Rußland, der Türkei und dem Iran trafen, lediglich eine Verbalnote mit der Forderung nach „politischer Lösung“ des Konflikts übrig.

Den siegenden Bürgerkriegskräften wird noch lange in Erinnerung bleiben, von der Arabischen Liga keinerlei Unterstützung erfahren zu haben. Hingegen von der Türkei, deren Einfluß in Syrien nachhaltig wachsen dürfte. Was von Doha blieb, war einzig der Ausspruch Saudi-Arabiens über den „Erhalt der nationalen Einheit“ Syriens. Kurz: Man beobachte genau, wie sich Türken und Israelis Gebiet aneignen.

In Syrien geht das tägliche Leben wieder seine Wege. Geschäfte und Banken öffneten ab Dienstag erneut ihre Pforten, ebenso lief die Ölförderung wieder an. Die neuen Machthaber rufen die Beamten auf, wieder an die Arbeit zurückzugehen. Flughäfen werden wieder geöffnet. Während im ganzen Land Monumente der alten Diktatur gestürzt und politische Gefängnisse befreit werden, ruft die HTS die weltweiten Flüchtlinge heim. 

Katerstimmung herrscht derweil bei den politischen Verbündeten Assads in Teheran und Moskau. Mit der Eroberung von Damaskus durch sunnitische Rebellen bricht für den Iran seine schiitische „Achse des Widerstands“ gegen Israel zusammen; die libanesische Hisbollah-Miliz verliert überdies ihren Landweg für den Waffennachschub. 

Die Großmacht Rußland darf sich sogar doppelt geschlagen fühlen: Nur zwölf Tage dauerte der blitzartige Vormarsch. Trotz mehrerer Militärbasen in Syrien war Rußland außerstande, die Niederlage seines engen Verbündeten Assad militärisch noch abzuwenden. Dazu noch droht Moskau der Verlust seines Flottenstützpunktes in Tartus sowie seines Militärflughafens in Hmeimim an der syrischen Mittelmeerküste bei Latakia. Letzterer diente bislang als Knotenpunkt der militärischen Abenteuer des russischen „Afrika-Korps“ – der ehemaligen „Gruppe Wagner“ – als Moskaus Schützenhilfe für Militär- und Putschistenregime in der Sahelzone. 

Allerdings gibt es bisher keine Berichte, daß Milizen versuchen würden, diese Basen zu besetzen. Der Leiter des syrischen Nationalen Koordinationskomitees für Außenbeziehungen, Ahmed al Asrawi, soll laut der russischen Nachrichtenagentur RBK gesagt gaben, Syrien werde sich weiterhin an Vereinbarungen halten, die im Interesse des Landes lägen. Das statuierte Exempel, daß Moskau selbst den langjährigen Alliierten Assad sang- und klanglos hat entmachten lassen, dürfte derweil Despoten in Afrika unruhig werden lassen.

Foto: Der neue starke Mann in Syrien, Mohammed al-Dschaulani, ruft in der Abbassiden-Moschee in Damaskus das Ende des Bürgerkriegs aus: Erinnerungen an die mittelalterlichen Kalifen und auch an den Islamischen Staat werden bei der Szenerie wach


Karte: Von Einheit und Frieden noch weit entfernt, Die Karte Syriens zeigt die verschiedenen Fraktionen nachdem sie ihren gemeinsamen Gegner Assad losgeworden sind. Die Karte zeigt den Verlauf der Grenzen zum 10. Dezember 2024.  Syrische Nationale Armee – SNA


Die Lage der Syrer in Deutschland

Während Zehntausende Syrer in deutschen Großstädten ausgelassen das Ende des Assad-Regimes feierten, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wie viele europäische Länder alle Entscheidungen über mehr als 47.000 Asylanträge von Syrern gestoppt – davon 46.081 in erster Instanz. 75.000 Syrer hatten im laufenden Jahr einen Antrag gestellt.

Die oberste Chefin der Behörde, die deutsche Innenministerin Nancy Faeser, will die Entwicklung abwarten. Die weitere Beurteilung des Schutzstatus der in Deutschland lebenden anerkannten Flüchtlinge aus Syrien hänge von der weiteren Entwicklung im Land ab, sagte sie. Die Lage dort sei sehr unübersichtlich, „deshalb sind konkrete Rückkehrmöglichkeiten im Moment nicht absehbar, und es wäre unseriös, in einer so volatilen Situation darüber zu spekulieren“, so die SPD-Politikerin.

Ähnlich äußerte sich auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Sie warnte davor, den Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad innenpolitisch zu mißbrauchen. 

Vor einer neuen Flüchtlingswelle – vor allem von Angehörigen der in Syrien lebenden Minderheiten wie den schätzungsweise eine Million Christen – warnte etwa Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und forderte Zurückweisungen an den Grenzen. 

Der Vize-Fraktionsvorsitzende der Union, Jens Spahn, meint: „Wie wäre es, wenn die Bundesregierung sagt: Jeder, der zurückwill nach Syrien, für den chartern wir Maschinen, der bekommt ein Startgeld von 1.000 Euro.“ Auf schnelles Handeln drängt auch Alex Jungbluth, AfD-Bundesvorstandsmitglied und Europaabgeordneter, der die EU-Kommission fragte, wann nun eine „Remigration aller syrischen Flüchtlinge in der EU in ihr Heimatland“ forciert werde.

Die Kanzlerkandidatin der AfD, Alice Weidel, erklärte: „Wer in Deutschland das ‘freie Syrien’ feiert, bei dem liegt augenscheinlich kein Fluchtgrund mehr vor. Er sollte umgehend nach Syrien zurückkehren.“

Wien geht derweil voran. Österreichs Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) erklärte, er werde im Auftrag des Bundeskanzlers Karl Nehammer (ÖVP), „ein geordnetes Rückführungs- und Abschiebungsprogramm nach Syrien vorbereiten“. Derzeit leben rund eine Million Syrer in Deutschland, davon mehr als 321.000 mit Flüchtlingsschutz und weitere 5.000 als anerkannte Asylbewerber. Knapp 330.000 haben subsidiären Schutz erhalten. 

Die übrigen rund 318.000 sind überwiegend im Rahmen des Familiennachzugs eingereist. Über 55 Prozent der Syrer beziehen Grundsicherung. Allgemeinbildende Schulen wurden im Schuljahr 2022/23 von rund 186.000 Kindern von Syrern besucht, weitere 50.000 an beruflichen Schulen. Zudem erhielten zwischen 2016 und 2023 rund 161.000 Syrer einen deutschen Paß. (pl)