© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/24 / 13. Dezember 2024

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Auf das Wesentliche besinnen
Paul Rosen

Die letzten Wochen vor Weihnachten wurden früher die „stade Zeit“ genannt. Häuser und Wohnungen wurden festlich geschmückt, die letzten Einkäufe erledigt, die Hektik ließ nach. Davon ist in Berlin wenig zu spüren. Da niemand für die Kosten aufkommen wollte, gibt es in der Straße Unter den Linden keine Weihnachtsbeleuchtung mehr. Vergeblich hatte der „Wirtschaftskreis Mitte“ versucht, Spenden dafür zu sammeln: „Licht ist das zentrale Symbol der Weihnachtszeit“, hieß es im Spendenaufruf. Nur am Kurfürstendamm sorgt die großzügige Spende eines Toilettenbetreibers dafür, daß es dort noch weihnachtlich aussieht.  

In den Radiosendern wird zwar ein Weihnachtslied nach dem anderen abgespielt, aber mancher Wortbeitrag läßt starke Zweifel aufkommen, ob man hinter den Mikrofonen noch die eigentliche Bedeutung des Festes im Blick hat: So befaßte sich ein Reporter allen Ernstes mit der Klimabilanz von Weihnachtsbäumen.

Weihnachtliche Atmosphäre ist im Bundestag angesichts der Hektik wegen der drohenden Neuwahlen auch erst abends zu spüren, sobald sich die Flure geleert haben. Wenn es dunkel geworden ist, zeigen sich die in den Parlamentsgebäuden aufgestellten Weihnachtsbäume in voller Pracht. Viele Berlin-Besucher bleiben stehen und fotografieren den von draußen am Spreeufer gut sichtbaren Baum im Paul-Löbe-Haus. Wie schon in früheren Jahren wurden die Bäume und der Schmuck gespendet. Daß der Radioreporter mit der CO2-Bilanz von Tannenbäumen kein Einzelfall ist, machte die Übergabe eines Baumes aus Niedersachsen deutlich, wo Schüler einer neunten Klasse der Naturpark-Schule Neuenkirchen die „nachhaltige Herstellung“ ihres Baumschmucks hervorhoben. Auf der Homepage des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil, aus dessen Wahlkreis die Schüler stammen, heißt es, daß die zur Dekoration gehörenden Heidschnucken mit Schlüsselbegriffen aus den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen sowie aus dem Grundgesetz beschriftet seien. Weihnachten sei auch ein Anlaß, sich auf das Wesentliche zu besinnen: „Auf das Miteinander, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Schutz unserer Erde“, sollen die Schüler gesagt haben. Mit dem christlichen Weihnachtsfest als Erinnerung an die Geburt Jesu Christi und die Menschwerdung Gottes hat das Sammelsurium von Geschlechtergleichheit bis hochwertiger Bildung wenig bis gar nichts zu tun.

Nicht politisch-korrekt, aber dafür locker ging es in der festlich geschmückten Bayerischen Landesvertretung zu. Dort war zum Adventskonzert „Christmas & Jazz“ mit einer Auswahl bayerischer Musiker geladen worden, die die begeisterten Zuhörer auf eine weihnachtliche Reise um die Welt mitnahmen. Das anschließende Essen war nichts für Veganer: Serviert wurde, passend zur Jahreszeit, gebratene Gans. Trost ist in diesen unruhigen Tagen in einem Zitat des großen bayerischen Spötters Karl Valentin zu finden: „Wenn die stade Zeit vorüber ist, wird es auch wieder ruhiger.“