Die einen feiern Abu Mohammed al-Dschaulani als Freiheitskämpfer und Befreier von 54 Jahren Assad-Diktatur, die anderen warnen vor übereilter, naiver Euphorie. Denn der 42jährige Führer der Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) ist kein unbeschriebenes Blatt: 2003 schloß der islamistische Milizführer sich al-Qaida an und kämpfte im Irak gegen die US-Truppen. Nachdem die ihn 2006 festgenommen hatten, verbrachte er nach eigenen Angaben etwa fünf Jahre in Haft, unter anderem im berüchtigten Foltergefängnis Abu Ghraib.
Zunächst jedoch, nach Ausrufung des Islamischen Staats im Irak, hatte ihn (der 2019 getötete) IS-Chef al-Baghdadi nach Syrien entsandt, um dort 2012 den al-Qaida-Ableger „al-Nusra-Front“ (Front zur Unterstützung des levantinischen Volks) zu gründen und gegen Baschar al-Assads Regierungstruppen zu kämpfen. 2014 kam es allerdings zum Bruch. Al-Dschaulani wandte sich vom IS ab und schwor (dem 2022 getöteten) al-Qaida-Chef Aiman al-Zawahiri die Treue. Doch diese hielt nicht lange und 2016 sagte er sich auch von al-Qaida los, um im Nordwesten Syriens ein eigenes Terrornetzwerk auszubauen, im Zuge dessen er die zersplitterten Rebellen-Gruppen um sich vereinen konnte. 2017 wurde daraus schließlich Hai’at Tahrir al-Scham.
Al-Dschaulani wird diesen Trumpf spielen und die Regierungschefs der EU aus seiner Hand fressen lassen.
Die HTS hat nun zwar das syrische Volk von einem halben Jahrhundert Diktatur befreit, doch sie bleibt eine dschihadistisch-salafistische Terrorgruppe, die auf ihrem Weg zur Macht Tausende von Zivilisten mißhandelt, vergewaltigt und ermordet hat. Und nur weil man den Tarnanzug ablegt und sich vor den Kameras in Hemd und Sakko präsentiert, gibt man noch lange nicht seine radikal-islamische Ideologie auf.
Geboren wurde al-Dschaulani 1982 als Ahmed al-Scharaa in Saudi-Arabien. Seine Familie stammt väterlicherseits aus dem Golan, dem hügeligen Landstrich Syriens an der Grenze zu Israel, das diesen 1967 eroberte. Al-Scharaa wurde antiisraelisch sozialisiert. Sein Kampfname al-Dschaulani – in anderer Schreibweise al-Golani – heißt „der aus dem Golan stammt“ und offenbart seine langfristige Agenda. Auch der Name seiner Miliz kommt nicht von ungefähr: Tahrir al-Scham bedeutet Komitee zur Befreiung der Levante. Denn al-Scham ist nicht nur der Name der syrischen Hauptstadt Damaskus, sondern steht für das Territorium eines Großsyriens, das die gesamte Levante, also den Osten des Mittelmeerraumes, umfaßt – und damit auch Israel.
Noch vor kurzem forderte al-Dschaulani die Einführung der Scharia, und so wirkt es, als hätte er Kreide gefressen, wenn er nun über Frauenrechte und Religionsfreiheit spricht. Der Imagewechsel ist daher rein taktisch zu verstehen, denn der neue Machthaber braucht Verbündete, um seine Position zu sichern, und Geld, um Syrien wieder aufzubauen. Was dieses nämlich trotz des langen Krieges etwa von Afghanistan unterscheidet, ist seine solide säkulare Gesellschaftsschicht: Ärzte, Lehrer, Unternehmer und Beamte, ohne die das Land nicht funktioniert. Al-Dschaulani weiß, daß er sie braucht, aber ebenso weiß er um seine Macht gegenüber der EU: Viele ihrer Regierungen stehen unter massivem politischem Druck, die Frage der syrischen Migranten zu lösen. Diese Trumpfkarte wird der neue starke Mann in Damaskus spielen – und die europäischen Regierungschefs aus seiner Hand fressen lassen.