© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/24 / 13. Dezember 2024

„Die Ära Merkel ist nicht vorbei“
Interview: Was ist dran an Angela Merkels publizistischer Selbstdarstellung, eines der erfolgreichsten Bücher des Jahres 2024? Antwort gibt Klaus-Rüdiger Mais eben erschienene Biographie der Altkanzlerin, die ebenfalls bereits ein Bestseller ist
Moritz Schwarz

Herr Dr. Mai, sie habe „keine Fehler“ zu bedauern, so Frau Merkel über ihre Kanzlerschaft bei der Vorstellung ihrer Autobiographie in Berlin. Hat sie recht?

Klaus-Rüdiger Mai: Inzwischen dürfte bekannt sein, daß Angela Merkel keine Fehler macht – zumindest nicht, was die eigene Karriere betrifft. Niemand hat ja bisher nach dem Maßstab gefragt. 

Sie meinen, wenn der Maßstab ihre Karriere ist, ...

Mai: ... dann hat sie alles richtig gemacht! Sie beherrscht – und das verbindet sie mit den Grünen – die arge Kunst, Geschäfte zu Lasten Dritter zu machen. 

Inwiefern?

Mai: Die Lasten für Frau Merkels Fortkommen haben die deutschen Bürger übernommen, nun haften sie mit ihrem Wohlstand, ihrer Zukunft und der Zukunft ihrer Kinder. Aus Merkels und Habecks Energiewende wird erwartungsgemäß das Energieende. Wäre der Maßstab dagegen das Wohlergehen des deutschen Volkes, so hätte Merkels erste und letzte Frage nicht gelautet, nutzt oder schadet mir die anstehende Entscheidung, sondern nutzt oder schadet sie dem Land? So kann man ihre Regierungszeit auch als eine Anthologie der Fehler und der Desaster bezeichnen.

Ihr am selben Tag wie die Autobiographie erschienenes Buch nennen Sie eine „kritische Biographie“ und stellen es dieser gegenüber: Was kritisieren Sie daran?

Mai: Sie irren, mein Bezugspunkt ist nicht Merkels Auto-Hagiographie, sondern die Wirklichkeit. Unter „kritisch“ versteht man ja, nach präzisen wissenschaftlichen beziehungsweise künstlerischen Maßstäben gewissenhaft streng zu prüfen und zu beurteilen. Wenn Frau Merkel nicht die Wirklichkeit – nicht das, was wirklich geschehen ist – in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt, sondern das, was die Leser und künftige Historiker über sie denken und glauben sollen, dann nehmen beide Bücher unabhängig voneinander eine jeweils andere Perspektive ein – sagen wir Wirklichkeit und Legende. 

So der vollständige Titel Ihres Buches – dem ebenfalls nun, wenige Tage nach Erscheinen, der Sprung auf die „Spiegel“-Bestsellerliste gelungen ist – „Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit“.

Mai: Weil es das ist, was ich untersuche: die deutsche Wirklichkeit und die Biographie Angela Mer-kels. An ihrer Autobiographie, die ich ja erst seit einigen Tagen kenne, kritisiere ich nichts, weil man Legenden und Selbstmystifikation nicht kritisieren, sondern nur zur Kenntnis nehmen kann. Ihr Buch zeigt mir aber, wie einsam Macht machen kann – und wie diese Einsamkeit sogar noch zunimmt, wenn die Macht den Menschen verläßt, weil sich die Macht mit ihm zu langweilen begonnen hat. Mit anderen Worten: die Macht hat ihren Preis. Erst hat man die Macht, dann hat die Macht einen. Sie verändert das Wesen des Mächtigen, und wenn er sie verliert, bleibt das, was sie aus ihm gemacht hat. 

Das heißt im Fall Frau Merkels konkret?

Mai: Ihre Interviews der letzten Tage, teils gezwungenermaßen großzügig vom Gebührenzahler finanziert, zeigen einen Menschen, von dem sich die Macht getrennt hat, einen Menschen, den das Charisma der Macht nicht mehr umgibt, nicht mehr beschützt. Im Gegensatz zu anderen ehemals Mächtigen sieht man bei Merkel nun, daß sie das Charisma der Macht nicht durch eigenes zu ersetzen vermag.

Was setzt Ihre „kritische Biographie“ inhaltlich dagegen: wo sehen Sie Frau Merkel „zwischen Legende und Wirklichkeit“ tatsächlich angesiedelt?

Mai: Da kommen wir zum Thema: Nicht Ideologien, nicht politische Ziele, nicht eine Idee der Kultur bestimmten ihr politisches Handeln, sondern – so einfach und banal es ist – die Macht. Ein Mitschüler sagte einmal über sie: „Egal, wo man Angela hinsetzt, sie will immer die Nummer eins sein. Als Physikerin hätte sie womöglich den Nobelpreis angestrebt.“ Zuerst wollte sie es ihrem Vater beweisen. Ein ungeheurer Ehrgeiz treibt sie an, der Besten können keine Fehler unterlaufen – sonst wäre sie nicht die Beste. Physik, merkt sie bald, eignet sich dafür nicht, denn der Nobelpreis ist für sie nicht zu erreichen. Vor sich hin forschen will sie aber nicht. Im Mittelpunkt stehen, bewundert werden, Macht ausüben, das ist es, was sie interessiert! Deshalb strebt sie später kein repräsentatives Amt an. Denn wer nur repräsentiert, den bemitleidet man ja immer auch ein wenig. Wirklich respektieren wir nur den Mächtigen. Und sie ist der Überzeugung, nicht gegen den Zeitgeist regieren zu können – nur ist der Zeitgeist nicht die Summe des Denkens der Zeitgenossen, sondern der von den Medien veröffentlichten Meinungen. Um Goethes Faust zu paraphrasieren: Was ihr den Geist der Zeiten heißt,/Das ist im Grund der Medien eigner Geist. Und der veröffentlichte Zeitgeist war und ist grün. Gewiß nicht gegen ihre wachsenden Neigungen wird Angela Merkel deshalb die beste Politikerin, die die Grünen je hatten, wie ich ihr schon seit längerem attestiere. Das Buch ist deshalb auch eine durcherzählte, eine praktische Studie über Macht und Politik in der neuesten Geschichte Deutschlands.

Eine Ihrer Thesen lautet, daß Angela Merkel keineswegs Vergangenheit ist und Ihr Buch somit keinesfalls nur ein Blick zurück. Was meinen Sie damit? 

Mai: Daß die Ära Merkel noch nicht vorbei ist und zwar aus drei Gründen: Erstens hat die Ampel nicht mit der Politik Merkels gebrochen, weder in den Fragen der Wirtschaft, siehe Energiewende, noch in der Gesellschaftspolitik, denn die Alternativlosigkeit ist die Mutter der Brandmauer. Zweitens war Merkel nicht nur 16 Jahre Bundeskanzlerin, sondern auch 18 Jahre Parteivorsitzende der CDU. Sie hat diese nach links verschoben, unter ihr haben die meisten Funktionäre ihre Karrieren begonnen und gemacht. Wenn die Union jemals eine Seele besessen hat, hat Angela Merkel sie exorziert. Drittens hat sie mit der Entpolitisierung der Gesellschaft, mit ihrer Spaltung zum Zweck des Machterhalts, das Land in eine tiefe, unversöhnliche Zerrissenheit gestürzt. Das letzte Kapitel meines Buchs heißt demzufolge: „Vier Sargnägel für Deutschland: 1. Energiewende, 2. Eurorettung, 3. Migration, 4. Pandemieregime und Spaltung der Gesellschaft“. 

„Angela Merkel“ steht für Sie also nicht nur für die Person, sondern auch für den Zustand, in dem Sie Deutschland hinterlassen hat. Wie aber ist es zu erklären, daß diese „Frau ohne Eigenschaften“ Möglichkeit und Macht hatte, unser Land so zu prägen?

Mai: Sie hat viel Glück gehabt und ist mit einem eisernen, eiskalten Machtwillen begabt, wie ihn auch Helmut Kohl und Gerhard Schröder besessen haben. Friedrich Merz dagegen verfügt weder über den Machtinstinkt der drei Kanzler, noch über deren Machtwillen. Als Merkels Kanzlerschaft begann, gesundete dank der Schröderschen Reformen das Land, war nicht länger der kranke Mann Europas – als sie das Kanzleramt verließ, hatte sie Deutschland wieder zum kranken Mann Europas gemacht. Schröders Reformen hat sie verfrühstückt, statt sie zu nutzen, weiterzuentwickeln und ihren Erfolg zu verstetigen. Denn da die deutsche Wirtschaft prosperierte, war genug Geld da, um alle Widersprüche damit zuzuschütten. In den Medien, der Kultur, an den Universitäten hatte der woke Irrationalismus der Grünen die Diskurs- und Deutungshoheit errungen. Daran richtete Merkel, zu deren Machtgrundlagen das Bündnis mit den Medien zählte, ihre Politik aus. Und ihr Pakt mit den Deutschen lautete: Ihr laßt mich meine Politik machen und dafür behellige ich euch nicht, sondern sorge dafür, daß alles gut und geräuschlos läuft. Als jedoch die immer größer werdenden Fehlleistungen ihrer Politik, beginnend mit ihrer Turbomigrationspolitik, im Alltag der Menschen ankamen, zeigte ihre Macht immer größere Risse. 

Die Autobiographie trägt den Titel „Freiheit“ (Rezension Seite 25). Das ist bemerkenswert, finden Sie nicht?

Mai: Sie nennt ihr Buch nach dem, wovon sie am wenigsten versteht. Es entspricht dem üblichen Merkelschen Verfahren. Sie behauptet, sich in der DDR nach Freiheit gesehnt zu haben – und schränkte die Freiheit wie noch kein Bundeskanzler vor ihr mit ihrem Pandemie-Regime ein. Freiheit, so stellt es sich mir dar, stört sie, ist unverzeihlich, muß rückgängig gemacht werden – sie darf der Bürger sich nicht nehmen, sie wird ihm zugeteilt. Merkels Vorstellung vom Regieren fand deshalb in ihrem Pandemie-Regime den reinsten Ausdruck, weil sie meines Erachtens Demokratie mit Bürokratie verwechselt und deshalb nicht begreift, daß Freiheit nicht im Kollektiv, sondern beim Einzelnen beginnt: Freiheit ist ein Individualrecht – und zwar das Individualrecht, auf dem unsere Gesellschaft beruht.

Das Thema Freiheit paßt auch nicht zu dem, dessen sie seit Jahrzehnten verdächtigt wird: sie sei in der DDR vielleicht mehr als nur ein durchschnittliches Rädchen im System gewesen. Aber ist an dem Verdacht etwas dran? Zu welchem Schluß sind Sie gekommen?

Mai: Das ist ein größerer Komplex, den man am besten im Buch nachliest. Denn man geht schnell über dessen Tiefe hinweg, wie westdeutsche Biographen und Kommentatoren es tun, wenn sie alles, was sie nicht verstehen, unter der Rubrik DDR abheften. Angela Merkel ist weniger eine Ostdeutsche als vielmehr eine westdeutsche Projektion. 

Was bedeutet?

Mai: Wenn Merkel – spärlich genug – über ihre Zeit in der DDR erzählt, fragen sich viel Ostdeutsche, wo sie eigentlich gelebt hat. Ihr Verhältnis zu ihrer Vergangenheit ist rein instrumentell. Am besten kommt das, was sie über den Osten denkt, in dem verächtlichen Satz zum Ausdruck, den sie als junge Bundesministerin 1991 äußerte: „Mir dürfen Sie ruhig glauben, daß es mir vor allem darum geht, aus dieser manchmal verkommenen und verkorksten Gesellschaft im Osten irgend etwas zu machen.“ Für grünaffine westdeutsche Medien stellte sie die gute Ostdeutsche dar: Wenn man sich mit den Ostdeutschen schon wiedervereinigen muß, dann sollen die Ostdeutschen sich wenigstens Mühe geben, so zu sein, wie wir Angela Merkel sehen.  

In ihrer Autobiographie schreibt sie: „Ich war 1990 in die Politik gegangen, weil mich Menschen interessierten.“ In Ihrem Buch liest sich das jedoch völlig anders.

Mai: Sie besitzt das Talent, Menschen zu durchschauen, sie zu „lesen“ und sie zu instrumentalisieren. Das heißt aber nicht, daß Menschen sie als Menschen interessieren, das ist etwas anderes. Meiner Ansicht nach hat sich Angela Merkel in den DDR-Jugendorganisationen der Pioniere, später der FDJ nicht aus ideologischer Überzeugung engagiert, sondern weil sie ein „Politiker-Gen“ besitzt: Das ist zum einen der Wille, sich in den Mittelpunkt zu bewegen, zu organisieren, Macht auszuüben, zum andern die Fähigkeit zu besitzen, Menschen zu beeinflussen und Netzwerke zu schaffen. Das stelle ich zunächst einmal neutral fest, die Frage lautet aber, was man damit anfängt, welche Ziele man als Politiker verfolgt? Diese Ziele müssen über den bloßen Machtgewinn und den Machterhalt hinausgehen, weil die Macht das Mittel sein sollte, diese Ziele durchzusetzen, nicht aber selbst zum Ziel werden darf.

Ihrer Biographie voran stellen Sie, die Altkanzlerin nicht dämonisieren zu wollen. Hat man als Autor aber nicht irgendwann eine „Geschichte“ im Kopf, in die man die Dinge einpassen will? 

Mai: Wer etwas in die historische Wahrheit „einpassen“ will, sollte gar nicht erst anfangen zu schreiben. Wir haben uns im Gegenteil beim Schreiben der Wirklichkeit zur Verfügung zu stellen. Ich bin dabei nicht an der Begegnung mit mir selbst interessiert, mich interessiert die Geschichte oder die Problematik – ich will verstehen, was wirklich passiert ist und warum es geschah. Und dieses Fragen und Suchen hört bis zum letzten Satz des Manuskripts nicht auf. Ich grabe, so tief ich kann. Jemanden anzugreifen oder auch in Schutz zu nehmen, liegt nicht in meinem Interesse – das alles gehört zum Bereich der Urteile, die der Leser nach der Lektüre fällen kann. Ich stelle dar, ich erzähle, ich folge der Geschichte, aber ich biege sie nicht. Täte ich das, würde ich mich vor der Wirklichkeit fürchten. Die Wirklichkeit ist der beste und zugleich der einzige Erzähler. 

Obwohl Sie also nicht dämonisieren wollen, ist der Eindruck, den man durch Ihr Buch gewinnt, denkbar schlecht, und man fragt sich, wäre „Angela Merkel. Ein Verhängnis“ nicht der treffendere Titel gewesen? 

Mai: Verhängnis? Für wen? Mein Interesse ist ein anderes, mich hat die Frage beschäftigt, in welcher Situation sich Deutschland heute befindet. Und um das zu verstehen, vor allem mit Blick auf die weitere Entwicklung, stellt sich konkret die Frage, wie und wodurch unser Land in diese Situation geraten konnte? Und da kommt man an der Politikerin Angela Merkel nicht vorbei. Daß sich Deutschland in einer denkbar schlechten Verfassung befindet, leugnet niemand. Dafür existieren Gründe, die man verstehen muß, wenn man etwas verbessern möchte. Wie gesagt, wir befinden uns noch in der Ära Merkel. Das Buch könnte helfen, Deutschland zu verstehen. 




Dr. Klaus-Rüdiger Mai: Der Sachbuchautor, Dramaturg und Schriftsteller hat mehrere Romane und zahlreiche Sachtitel verfaßt, darunter einige Biographien, etwa über Sahra Wagenknecht. Zuletzt erschien zudem „Die Zukunft gestalten wir! Wie wir den lähmenden Zeitgeist endlich überwinden“ (2021) und „Der kurze Sommer der Freiheit. Wie aus der DDR eine Diktatur wurde“ (2023). Geboren 1963 in Staßfurt bei Magdeburg, studierte er Germanistik, Geschichte und Philosophie und schrieb als Gastautor unter anderem für die NZZ, die Welt, den Cicero oder das Magazin Cato. Sein neues Buch „Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit – eine kritische Biographie“ ist auf Anhieb zum Bestseller geworden.