© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/24 / 06. Dezember 2024

Der Flaneur
Verrückt oder AirPods?
Claus-M. Wolfschlag

Es war in den 1990er Jahren, ich war ein junger Kerl. Bei einem USA-Besuch standen wir an der Ausfahrt von New York im Stau. Ich entdeckte die Geschäftsfrau im Auto hinter uns und amüsierte mich. Sie saß allein hinter dem Lenkrad, schrie aber und tobte regelrecht. 

Sie führt Selbstgespräche, grinste ich. Erst viel später kam mir der Gedanke, daß die Vereinigten Staaten technologisch stets Vorreiter waren, somit die Frau womöglich über ein Autotelefon mit Freisprecheinrichtung verfügt haben könnte.

Am Bahnsteig beginnt plötzlich ein Mann wild mit den Armen herumzufuchteln. Hat er ein Messer?

Gelegentlich muß ich an die Frau denken. Denn dem in seiner Jugend analog Aufgewachsenen sind viele Verhaltensweisen der digitalen Welt immer noch fremd. Ein Beispiel ist die Allgegenwart von Bluetooth-Kopfhörern wie den AirPods von Apple, die den Nutzer direkt mit dem Smartphone verbinden. Telefonate können damit kabellos geführt und diskret Musik gehört werden.

Das führt häufig dazu, daß ich jemandem auf der Straße eine Frage stelle und dieser überhaupt nicht reagiert. Er steht da starr wie ein Roboter, dem der Saft abgedreht wurde. Erst wenn ich nah vor sein Gesicht trete, entfernt er verdutzt die Ohrstöpsel.

Einen Abend warte ich am Bahnsteig auf die S-Bahn, als etwa zehn Meter entfernt ein Mann wild mit den Armen herumzufuchteln beginnt. Er geht unruhig hin und her, als würde er ein Dreieck abschreiten. Ein Verrückter, denke ich und frage mich, ob er womöglich ein Messer in der Jacke hat. Aufgrund des Lärms aus einfahrenden Zügen und Durchsagen kann ich nicht verstehen, was er schreit. Da fällt mir die New Yorker Frau in dem Auto vor 30 Jahren wieder ein.

Meine Bahn kommt, und dort geriert sich ein Schwarzer mit Afro-Frisur als Entertainer. Er singt mit aufgerissenen Augen durch das ganze Abteil: „You don’t love me. You don’t care“. Verrückt oder AirPods?, frage ich mich. 

In der Sportstudio-Umkleide schließlich stellt ein junger Bursche direkt neben mir seine Tasche ab und summt lautstark eine Melodie: „Na-nana-nana ...“ Doch ich erkenne deutlich die weißen Kopfhörer.



Wenn es morgens um sechs an meiner Tür läutet und ich kann sicher sein, daß es der Milchmann ist, dann weiß ich, daß ich in einer Demokratie lebe.

Winston Churchill (1874–1965)