Über den Abstieg des Westens sind zuletzt viele Bücher erschienen, darunter die stark beachtete Schrift „Der Westen im Niedergang“ von Emmanuel Todd. Hauke Ritz beackert ein wohlbestelltes Feld, will jedoch als eigenständiger Autor wahrgenommen werden. Dies ist nicht nur an seiner Beurteilung des Krieges zwischen der Ukraine und Rußland ersichtlich, dem ein langer antirussischer Medienkrieg vorausgegangen war. Am Anfang seiner Studie stellt der Autor eine „Kinderfrage“: „Warum haßt der Westen Rußland so sehr?“ Dem üblichen Bösewicht wird ein wenig Empathie entgegengebracht.
Ritz bettet seine Erörterungen über die unmittelbare Gegenwart in historische Betrachtungen ein. Die vielzitierte „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ leitete den Niedergang eines einst dominanten Kontinents ein. Nach dem Ersten Weltkrieg stiegen die beiden jungen Flügelmächte USA und Sowjetunion auf. Der Zweite Weltkrieg und die Entkolonialisierungstendenzen machten den Bedeutungsverlust vollends deutlich, der dadurch ein wenig kompensiert werden konnte, daß das freie Europa nach 1945 mit den Vereinigten Staaten gemeinsam als „Westen“ auftreten konnte. Diese Verbindung jedoch war vor allem militärischen, weniger kulturellen, politischen oder geopolitischen Hintergründen geschuldet.
Das Agieren im Windschatten der nach 1989/90 zeitweilig „einzigen Weltmacht“ machte Europa, trotz der zügigen Erweiterungen der EU nach Osten, zum bloßen Appendix des großen Bruders. Infolge der militärischen und ökonomischen Überdehnung sank in den letzten zwei Jahrzehnten der Stern der USA, die sich mit allen Mitteln gegen ihre Verdrängung vom ersten Platz der Weltpolitik wehren. Parallel kam es zum „Aufstieg der Anderen“ (Fareed Zakaria), vornehmlich in Asien.
Ritz appelliert an die von einer (aus den USA importierten) „postmodernen Fehlinterpretation seiner eigenen Kultur“ geprägten europäischen Länder, die Zeichen der Zeit zu verstehen: Ent-Dollarisierung und die Formierung der BRICS+-Staaten sind Indizien für eine globale Zeitenwende und eine immer multipolarere Weltordnung. Die Europäer sollen sich eigenständig positionieren und ihre vornehmlich künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Überlieferungen hervorkehren statt fast ausschließlicher Prioritäten zugunsten von Ökonomie und Technik, wie sie von den USA gesetzt werden. Solche Worte dürften dem Autor den Vorwurf einbringen, alte kulturkritische Ressentiments von der „technischen Raserei“ (Heidegger) der USA neu aufzutischen. Vielleicht ist die Publikation gerade deshalb so lesenswert.
Hauke Ritz: Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas. Promedia Verlag, Wien 2024, 264 Seiten, 23 Euro