Um das, was am 7. Oktober 2023 in Israel geschehen ist, zu verstehen, brauchten auch Kenner des Nahen Ostens viel Zeit – und vielleicht haben wir alle es bis heute nicht in seiner ganzen Dimension begriffen: die massenhafte Invasion palästinensischer Terroristen, das brutale und wahllose Abschlachten von Menschen, vor allem aber auch die totale Hilflosigkeit auf israelischer Seite, das Totalversagen der Grenzsicherung und das absolute Chaos innerhalb der israelischen Armee, das über Stunden anhielt.
Mehr als ein Jahr danach hat sich die Perspektive international längst verschoben: Die Welt schaut vor allem auf das Leid der Palästinenser und die israelische Kriegsführung hat sich im Schwerpunkt auf den Libanon verlagert. Außerhalb Israels ist der 7. Oktober vielleicht nicht vergessen, aber doch längst nicht mehr so präsent wie im Lande selbst.
Mit „Die Tore von Gaza. Eine Geschichte von Terror, Tod, Überleben und Hoffnung“ hilft Amir Tibon seinen Lesern, sich jenen „Schwarzen Schabbat“ neu zu vergegenwärtigen, mit all den oben angerissenen Facetten. Tibon arbeitet als Journalist für die israelische Tageszeitung Ha’aretz und lebte seit 2014 im Kibbuz Nachal Os, direkt am Gazastreifen. Tibon ist also Überlebender des Massakers. Mit Frau und zwei Kindern harrte er im kleinen Schutzraum seines Hauses aus, in Dunkelheit, schweigend, ohne Internet, während draußen die Terroristen mordeten. Grundlage seines Werkes ist dementsprechend ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht, eine unfreiwillige Reportage gewissermaßen.
Diese weist aber weit über Tibon als einzelnen hinaus. Dem 35jährigen gelingt es überzeugend, unterschiedliche Erzählstränge zu einer integrierten Gesamtgeschichte zusammenführen. Zu erwähnen ist insbesondere die von Tibon ausführlich dargestellte Geschichte seines Vaters an jenem Tag. Der Ex-Soldat machte sich am 7. Oktober auf eigene Faust auf den Weg in den Süden, um Sohn, Schwiegertochter und Enkelkinder zu retten. Die Dinge, die er auf dem Weg dorthin erlebte, sind teils unglaublich.
Vor allem aber geben sie einen guten Einblick in den Charakter des Tages. So rettete der Vater etwa auf dem Weg in den Kibbuz wie nebenbei Überlebende des Massakers auf dem Nova-Festival. Er schloß sich umherirrenden Sicherheitskräften an, deren Kommandeure ausfielen und die ohne Weisung auf sich allein gestellt waren. Und er drang am Ende mit ihnen in den Kibbutz ein und rettete seine Familie. Tibon beschreibt das alles fesselnd – so fesselnd, daß man sich immer wieder daran erinnern muß, daß das Ganze nicht seiner Phantasie entspringt, sondern schreckliche Realität war.
„Hamas schoß ihnen ins Gesicht, der Staat in den Rücken“
Über diese Reportage setzt Tibon noch eine weitere Ebene: Nebenbei schreibt er mit seinem Buch nämlich auch eine kleine Geschichte seines Kibbuzes, des Kibbuz Nachal Os. Der Autor schildert sie von ihrem Beginn in den 1950er Jahren bis in die Gegenwart. Dabei entsteht eine Charakterskizze eines Ortes, der auf linkszionistischen Idealen erbaut wurde und ihnen immer verhaftet blieb. Zugleich ist es ein Ort, der durch seine exponierte Lage schon immer besonderen Gefahren ausgesetzt war, auf dem „die Tore von Gaza“ daher schon immer schwer lasteten. Somit sind die „Tore von Gaza“, die im Buchtitel auftauchen, so etwas wie ein Leitmotiv.
Da Tibons Geschichte äußerst mitreißend ist, wundert es nicht, daß ein kleiner Abriß davon es auch in den Sammelband geschafft hat, den die in Tel Aviv lebende deutsche Publizistin Gisela Dachs zum 7. Oktober herausgegeben hat. Das Werk stammt aus der Reihe Jüdischer Almanach des Leo-Baeck- Instituts. Es sammelt dieses Mal, dem Buchtitel entsprechend, „Stimmen aus Israel“ zum 7. Oktober. Vertreten sind dabei ganz unterschiedliche Textsorten, inhaltliche Schwerpunkte und Herangehensweisen – mal sehr realweltlich, mal philosophisch, mal religiös, mal profan, einzelne Gedichte, ansonsten Prosa. Etgar Keret zum Beispiel, ein namhafter israelischer Schriftsteller, taucht mit einer Kurzgeschichte auf, in der er schildert, wie ein Jude über die Geiseln das richtige Beten lernt. Sein Schriftsteller-Kollege David Grossmann reflektiert derweil über die Bedeutung des „Schwarzen Schabbat“ für Israel. Sein schmerzhafter Essay bringt zum Ausdruck, daß Israel „in die jüdische Existenz zurückgeworfen“ worden, daß das Volk noch immer „ein Volk von Davongekommenen“ sei.
Einen völlig anderen Text hat Gerschon Baskin beigesteuert: Der Israeli hat über Jahre einen halbprivaten Verhandlungskanal zur Hamas unterhalten. Im Beitrag gibt er seine Kommunikation mit einem bekannten Hamas-Funktionär nach dem 7. Oktober wieder, in dem er versuchte, die Geiseln freizubekommen. Am Ende brach er die Leitung ergebnislos ab, weil er bei der Hamas auf eine Blockadehaltung traf.
Was die verschiedenen Beiträge eint: In ihrer Gesamtheit vermitteln sie splitterhafte Einblicke in das, was der 7. Oktober mit Israel gemacht hat. Deutlich wird die geradezu schmerzhaft-schicksalhafte Verbindung vieler Autoren zum eigenen Land und Volk – das sich gerade in diesen Beiträgen aber auch immer wieder mit beißender Selbstkritik konfrontiert. Dort, wo die Beiträge politisch werden, repräsentieren sie stets eine linkszionistische Perspektive.
„Die Hamas schoß ihnen ins Gesicht. Der Staat schoß ihnen in den Rücken“, dichtet etwa der Theatermacher Gad Kaynar Kissinger über das Staatsversagen am 7. Oktober. Aber auch die Haltung von Israelis im Konflikt mit den Palästinensern wird konfrontiert: Arad Nir zum Beispiel, ein Journalist eines namhaften israelischen TV-Kanals, kritisiert eine „Gleichgültigkeit“ gegenüber palästinensischem Leid in israelischen Medien. Nicht vertreten ist eine arabisch-israelische Stimme, ebensowenig wie eine Stimme der israelischen Rechten.
Aller Katastrophe zum Trotz ist ans Ende des Bandes ein Beitrag gesetzt, der offenbar Hoffnung auf Versöhnung und Frieden machen soll. Autor Gideon Reuveni hat dafür ausgerechnet die deutsch-jüdische Aussöhnung als Vergleichspunkt gewählt. Dieser Vergleich wirkt allerdings angesichts der Unterschiedlichkeit beider historischen Situationen am Ende doch ziemlich aufgesetzt.
Foto: Von Hamas-Kämpfern wahllos ermordete Israelis auf einer Straße bei Sderot am 7. Oktober 2023: Vielleicht haben wir alle den Terrorakt bis heute nicht in seiner ganzen Dimension begriffen
Gisela Dachs: 7. Oktober. Stimmen aus Israel. Der Almanach zum 7. Oktober – Versuch einer Einordnung. Jüdischer Verlag, Berlin 2024, broschiert, 200 Seiten, 23 Euro
Amir Tibon: Die Tore von Gaza. Eine Geschichte von Terror, Tod, Überleben und Hoffnung. Der 7. Oktober 2023 geschildert von einem Überlebenden des Kibbuz Nahal Oz. Jüdischer Verlag, Berlin 2024, gebunden, 432 Seiten, 26 Euro