© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/24 / 06. Dezember 2024

Bahnbrecher für eine Volksarmee
Das gescheiterte Attentat vom 20. Juli nutzten die NS-Machthaber, die Wehrmacht zugunsten der Waffen-SS umzuformen. Ein „Führerbefehl“ vom 7. Dezember 1944 stellte die Weichen auf Politisierung
Frank Wernitz

Nicht nur die sich im Frühsommer 1944 verschärfende militärische Lage, sondern auch der seit der Winterkrise 1942/43 von der NS-Führung erzwungene Strukturwandel in den Landstreitkräften an der Schwelle zum „totalen Krieg“ beschleunigten Entwicklungen, die auf die Etablierung einer neuen, spezifisch nationalsozialistischen Wehrordnung hinausliefen. Das letzte Aufbäumen nationalkonservativer Offiziere gegen Hitler und seine Politik, aber auch gegen den Umbau der Wehrmacht zu einer nationalsozialistischen Volksarmee, den sie mit einer Bolschewisierung verglichen, spielte dem Regime letzten Endes in die Hände. Nun konnten auch die letzten Hemmungen gegenüber der stets mißtrauisch beäugten Wehrmacht fallengelassen und ihr noch radikaler gegenübergetreten werden. 

Insofern stand der angestrebte Paradigmenwechsel innerhalb des Heeres nur mittelbar in Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944, vielmehr muß dieses Datum als „Dammbruch“ eingestuft werden. Nach dem gescheiterten Anschlag auf Hitler verfolgte man nur noch ein Ziel: die Streitkräfte diesmal endgültig auf nationalsozialistischen Kurs zu bringen, da mit „dem Ausmerzen der Verräter“ der letzte Widerstand gegen eine umfassende Politisierung der Wehrmacht gebrochen schien. Tatsächlich standen die Streitkräfte im Sommer 1944 weitgehend geschlossen hinter ihrem Obersten Befehlshaber und nicht hinter den Aufständischen aus den eigenen Reihen. 

Nach den Worten des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, würde das Heer jetzt endlich den Weg zum Volke finden, da die nationalsozialistische Revolution durch den 20. Juli gewissermaßen vollendet worden sei. Zwei Tage nach dem Attentat schlug der Chef der Reichskanzlei Hitler vor, den Reichsführer SS (RFSS) Heinrich Himmler mit besonderen Vollmachten zur Reorganisation der Gesamtwehrmacht im Sinn und Geist der nationalsozialistischen Weltanschauung auszustatten. Dieser Vorstoß wurde vom Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel nachhaltig unterstützt, da seiner Meinung nach das traditionsgebundene Wesen der Landstreitkräfte einer politischen Neuausrichtung bislang entgegenstand.  

Himmler schien deshalb der ideale Mann zu sein, da er die nun anstehenden, umfassenden Reformen mit starker Hand durchführen und die Neugestaltung des Heeres nach nationalsozialistischen Grundsätzen vornehmen werde, „so wie er die Waffen-SS aufgebaut hat“. Himmler sah sich aber befleißigt, unmittelbar nach Übernahme seiner neuen Aufgabe als Befehlshaber des Ersatzheeres öffentlich darauf hinzuweisen, dieses Amt nicht als Reichsführer SS übernommen zu haben, sondern als „bedingungsloser Gefolgsmann des Führers und als deutscher Soldat“. Er war mit Blick auf das nun ihm unterstellte Territorialheer entschlossen, „durch Tat und Leistung die Schande des 20. Juli vergessen“ und es zu einer Kaderschmiede für „des Führers und seines Reiches nationalsozialistische Volksarmee“ zu machen. Ihm war bewußt, daß Hitler nach wie vor das Heer „als Waffe der Zukunft“ in der Lage sah, für eine erfolgreiche Beendigung des Krieges zu sorgen und nicht die Waffen-SS. Eine einseitige Bevorzugung der bewaffneten SS in materieller und personeller Hinsicht zu Lasten des Heeres war deshalb per se ausgeschlossen. 

In einer Grundsatzrede vor hochrangigen Parteigenossen bekannte sich Himmler am 3. August 1944 daher vorbehaltlos zu einem deutschen „Volksheer in der breiten Aushebung“, das in Einklang mit den bestehenden politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen steht. Für ihn konnte diese Aufgabe nur über die politisch-ideologische Erziehungsarbeit und eine Selbstreinigung des Heeres von „unsauberen Elementen“ im Offizierskorps realisiert werden. Er wollte dabei als Stichwortgeber der weltanschaulichen Schulung und ambitionierter Erzieher wirken. Die ursprünglich vom Begriff „Wehrmacht“ ausgehende Eindeutigkeit sollte sich auflösen und an deren Stelle das Bild uniformierter „Volksgenossen“ treten, die unter demselben Hoheitsabzeichen bis zum „Endsieg“ kämpften. 

Intensität der weltanschaulichen Erziehungsarbeit nahm 1944 zu

Der traditionelle und in den Augen des NS-Regimes reaktionäre „Korpsgeist“ des soldatischen Berufsstandes hatte dem mit Fanatismus kämpfenden Nationalsozialisten in Uniform zu weichen. Will man den geheimen Meldungen des Inlandsnachrichtendienstes der SS im Reichssicherungshauptamt (SD) über die Entwicklungen der öffentlichen Meinungsbildung Glauben schenken, stieß die Personalie auch in weiten Kreisen der Bevölkerung auf Zustimmung. Unter dem 28. Juli 1944 wurde berichtet, daß mit der Ernennung des RFSS zum Chef der Heeresrüstung und Oberbefehlshaber des Ersatzheeres große Hoffnungen verknüpft seien, da nun ein „gründliches Reinemachen“ erfolgen werde. Nach einem Lagebericht vom 10. August 1944 schienen einer Mehrheit in Mitteldeutschland sogar die von Himmler angekündigten Maßnahmen nicht radikal genug zu sein, da es keine Kommissionen, sondern politische Kommissare nach sowjetischem Muster bedürfe, die hart und unerbittlich durchgreifen. 

Der Wunsch nach einschneidenden Reformen scheint auch unter jüngeren Offizieren virulent gewesen zu sein, da nach einem Bericht des SD vom 1. Juni 1944 einige die Auffassung vertraten, daß die Truppe an der Front zwar den Aufgaben gewachsen sei, der „Bürokratismus der Wehrmacht“ einer erfolgreichen Lösung aber dem entgegenstünde. Diese Lage hätte nur dadurch entstehen können, da versäumt worden sei, die Wehrmacht noch vor dem Kriege zu revolutionieren. Insbesondere gegen die Rote Armee kämpfende Offiziere beklagten, daß das deutsche Heer immer noch ein konservativer Apparat sei und gegenüber einer zu allem entschlossenen Streitmacht wie der sowjetischen ins Hintertreffen geraten müsse. Ihr Fazit war deshalb, daß die Sowjets den totalen Krieg viel besser beherrschten als die Deutschen.

Analog zum postulierten gesamtgesellschaftlichen Kriegseinsatz sahen Himmlers Zukunftsvisionen deshalb eine Wehrordnung vor, in der seine mittlerweile multinationale Waffen-SS zwar als vierte „Teilstreitkraft“ fester Bestandteil der bewaffneten Macht sein, aber nicht mit dieser zu einer NS-Armee neuen Typs verschmelzen sollte.

Diese Kampfgemeinschaft in Feldgrau, die während des Krieges praktisch schon wirksam war, ohne daß sie im rechtlich notwendigen Maße Gestalt angenommen hatte, sollte in einer NS-Friedensordnung das neue Machtmittel des Führerstaates werden. Denn je mehr sich das „Hoheitsgebiet“ ausdehnte, desto mehr bedurfte die Wehrmacht Truppen mit militärischen und polizeilichen Fähigkeiten zur Raumsicherung. Himmlers Verbände boten sich hierzu regelrecht an. Die äußere Bedrohung und der mißglückte Staatsstreich hatten im Sommer 1944 einen Radikalisierungsschub ausgelöst, der zu einer verspäteten militärischen Machtergreifung führte. Infolgedessen nahm in der Wehrmacht die Intensität der weltanschaulichen Erziehungsarbeit zu, während sie bei den seit fünf Jahren im Einsatz stehenden SS-Kampfverbänden eine zunehmend untergeordnete Rolle eingenommen hatte. 

Da die politisch-ideologische Bewußtseinsbildung als besonders kriegswichtig eingestuft wurde, mußten gemäß „Führerbefehl“ vom 7. Dezember 1944 nicht nur der gesamte Offiziersnachwuchs des Heeres, sondern auch der der Waffen-SS vor Eintritt in die aktive Truppe Kurse an Politschulen absolvieren. Das mit den Landstreitkräften eng zusammenarbeitende Offizierskorps der Waffen-SS war bislang nicht zu bewegen gewesen, das aufzugeben, was Himmler den „Wehrmachtsstandpunkt“ nannte. Nun wurden sogenannte „Kriegslehrgänge“ mit insgesamt 2.000 Lehrgangsplätzen eingerichtet, von denen 1.500 auf das Heer und 500 auf die Waffen-SS entfielen. Beide Organisationen waren verpflichtet, die zahlenmäßigen Auflagen zur Beschickung dieser Kurse sicherzustellen. Seit 1944 stand das Lehrfach „Weltanschauliche Schulung“ gleichrangig neben dem Fach „Taktik“ mit jeweils einer achtfachen Bewertung.

Keine Unterscheidung von äußerem Gegner und innerem Feind mehr

Unverrückbar blieb hingegen die Aufgabenstellung der beiden Organisationsbereiche. Bereits unmittelbar nach seiner Ernennung zum Reichskanzler hatte Hitler am 30. Januar 1933 klargestellt, daß im Gegensatz zu kaiserlichem Reichsheer und Reichswehr die Streitkräfte des NS-Staates von ihrer Rolle als Ordnungsfaktor im Inneren entbunden werden müßten. Aus diesem Grunde sollten diese Aufgaben neuen parteipolitisch gebundenen Organisationen übertragen werden, die für die Durchführung revolutionärer Ideen geeignet waren wie die in den Jahren 1933/34 aufgestellte SS-Verfügungstruppe. Ihm schwebten Prätorianer vor, die bereit waren, ohne Widerspruch zu tun, was ihnen befohlen würde. Damit sollte sichergestellt werden, daß die Unterscheidung zwischen äußerem Gegner und innerem Feind, zwischen militärischen und polizeilichen Mitteln sowie zwischen Krieg und Frieden entfällt.

Wenn auch in einer NS-Nachkriegsordnung die regulären Streitkräfte nach ihrer Bewaffnung und Personalstärke weiterhin die militärische Hauptkraft des Regimes darstellen würden, deren Transformation vom elitären Führerheer zur egalitären nationalsozialistischen Volksarmee in den Händen der Partei bei Kriegsende weitgehend realisiert werden konnte, blieb die Beibehaltung von bewaffneten Kräften der Staatssicherheit ein wesentlicher Bestandteil des Systems. Sie sollten die Kontrolle über das eigene wie auch geraubte Staatsgebiet ausüben können, um zur Bekämpfung innerer Notstände nicht die eigentliche Armee zum Schutz der nationalsozialistischen Herrschaft einsetzen zu müssen. 

Die bewaffnete SS war deshalb von Anfang an berufen, innerhalb des NS-Imperiums und unter dem Schutzschirm der nationalsozialistischen Volksarmee mit der Waffe in der Hand für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. Diese Kooperation zwischen Streitkräften und Waffen-SS stellte nicht nur ein Zugeständnis an die nationalsozialistische Weltanschauung dar, sondern auch ein Zugeständnis an eine rationale, bewußte wie wirksame und im Krieg bewährte und nach dem 20. Juli 1944 intensivierte Arbeitsteilung innerhalb einer totalitären Polykratie.

Foto: Beobachter der Waffen-SS auf einem vorgeschobenen Posten, undatiert: Diese Kampfgemeinschaft in Feldgrau, die während des Krieges praktisch schon wirksam war, sollte in einer NS-Friedens-ordnung das neue Machtmittel des Führerstaates werden

Frank Wernitz: Rivalen oder Kampf­gemeinschaft in Feldgrau? Ein Diskussions­beitrag zu den Beziehungen zwischen Wehrmacht und bewaffneter SS 1933–1945. Verlag Veit Scherzer, Bayreuth 2023, gebunden, 521 Seiten, Abbildungen, 69 Euro