Als sich die USA 1776 vom britischen Mutterland lossagten, überhäuften sie König Georg III. mit den üblichen Invektiven, als Tyrannen etc. Die spanischen Vizekönigreiche in Übersee konnten sich eine Generation später derlei revolutionäre Pflichtübungen ersparen. Im Gegenteil: Ihre Unabhängigkeitserklärungen erfolgten 1810/11 im Namen ihres Königs, Ferdinands VII., der von Napoleon aus Spanien vertrieben und eingesperrt worden war. Der Treueschwur zum fernen König im goldenen Käfig ging einher mit einer De-facto-Unabhängigkeit, freilich mit einer Unabhängigkeit nach dem Muster: jeder gegen jeden. Jede Region sagte sich von ihren bisherigen Obrigkeiten los. Allein im späteren Kolumbien lassen sich da ein halbes Dutzend „Stadtstaaten“ ausmachen.
Nach Wellingtons Sieg kehrte „El Deseado“, der ersehnte König, 1814 tatsächlich nach Madrid zurück. Jetzt mußten seine ach so eifrigen Anhänger in Übersee, die sich an ihre Selbständigkeit gewöhnt hatten, den Offenbarungseid ablegen. Wie hielten sie es mit dem Treueschwur gegenüber dem König? Da ergab sich ein recht deutliches Muster: Die alten Hochlandkerne, das eigentliche Herzstück des spanischen Imperiums, Mexiko und Peru, hielten tatsächlich zum König. Doch die Provinzen an der Peripherie, allen voran am Rio de la Plata (Argentinien) und in Venezuela verteidigten ihre Selbständigkeit, wenn es sein mußte, dann eben auch gegen den König.
Ferdinand VII. schickte prompt 10.000 Mann nach Südamerika, um die Rebellen zur Räson zu bringen. 10.000 Mann für einen halben Kontinent, das klingt nicht nach sehr viel. Aber der Kontinent war sehr dünn besiedelt, hatte weniger Einwohner als das Mutterland. Die Profis aus Europa, Veteranen der Napoleonischen Kriege, waren militärisch nahezu unbesiegbar. Sie trieben den bekanntesten der Unabhängigkeitskämpfer, den venezolanischen Grandseigneur Simon Bolivar, mit Leichtigkeit in die Wildnis zurück, zum Teil unterstützt von den Mittel- und Unterschichten, die sich nur zu gern gegen die kreolischen Herren ausspielen ließen.
Doch auch der beste Drill war machtlos gegen die Moskitos. Tropenkrankheiten dezimierten die Truppe. Das Schicksal, das auf Soldaten in Übersee wartete, sprach sich auch in der Heimat herum. Als der König 1820 eine zweite Armee nach Übersee expedieren wollte, meuterte die Truppe. Die Revolution erfaßte ganz Spanien: Dem König wurde eine Verfassung abgepreßt. Unter den Liberalen gewannen die Radikalen („Exaltados“) die Oberhand. Der König erließ Hilferufe an Metternich und die „Heilige Allianz“, die schließlich auch tatsächlich „brüderliche Hilfe“ leistete und 1823 in Spanien intervenierte.
Es waren diese Turbulenzen in der Heimat, nicht der revolutionäre Volkswille, der Spanien um seine letzten Bastionen in Amerika brachte. Im Hochland, mit seinen indigenen Dorfgemeinschaften, nahm die Kirche eine starke Stellung ein. Die Revolutionäre in Spanien aber waren rabiate Antiklerikale. Einem solchen Regime kündigten die mexikanischen Eliten die Gefolgschaft auf. Lieber konservative Unabhängigkeit als Kolonie der gottlosen Liberalen. Der bisherige Vizekönig Iturbide garantierte die Rechte der Kirche und rief sich zum Kaiser Agustin I. aus. Das Kaiserreich überlebte nicht lange, doch die Unabhängigkeit Mexikos erwies sich als irreversibel.
Der Zentrale weiterhin treu blieb Peru. Der Vizekönig übergab sein Amt einem Nachfolger, Juan de la Serna, der alle Befehle aus Madrid befolgte, wer auch immer dort regierte. Er verlor kurze Zeit Lima und den Hafen Callao, weil es der Unabhängigkeitspartei im Süden des Kontinents gelungen war, Chile zu erobern und eine kleine Flotte unter einem in Ungnade gefallenen englischen Lord anzuheuern. Aber die königliche Armee beherrschte das Hochland mit seiner indianischen Bevölkerung. La Serna residierte in der alten Inka-Hauptstadt Cuzco, ja er eroberte 1823 auch Lima zurück; Teile der Rebellen kehrten reumütig zu ihm zurück.
Revolutionskämpfe begleiteten auch regionale Rivalitäten
Doch 1823 kehrte auch Ferdinand VII. an die Macht zurück. Der König gehörte mehr noch als seine französischen Vettern, auf die der Spruch ursprünglich gemünzt war, zu den Bourbonen, die nichts dazugelernt – und nichts vergessen hatten. Er hatte immer schon den Kompromißvorschlag zurückgewiesen, in Lateinamerika einfach Prinzen seiner Dynastie als Seitenlinien regieren zu lassen. Vor allem aber: Er vergab La Serna nicht, daß er auch der Revolutionsregierung gedient hatte. Die siegreiche königliche Armee in Peru geriet plötzlich unter Generalverdacht. Hinter all den Revolutionskämpfen standen immer auch regionale Rivalitäten. Warum sollte es diesmal anders sein. In Bolivien sagte sich der lokale Machthaber, Pedro Olaneta, von Peru los – und erklärte sich zum einzigen Getreuen von Thron und Altar. La Serna geriet zwischen zwei Feuer. An der Küste landeten Verstärkungen Bolivars aus Kolumbien; im Landesinneren schwelte die Rebellion Olanetas. Der Zweifrontenkrieg hatte katastrophale Auswirkungen auf die Moral der Truppe.
Für das folgende Geschehen gibt es zwei Lesarten. Die heroische lautet: Bolivars begabtester Unterfeldherr, Antonio Jose de Sucre, folgte der königlichen Armee ins Landesinnere und lieferte ihr am 9. Dezember 1824 bei Ayacucho die Entscheidungsschlacht. Sein Denkmal am Schlachtfeld kündet vom Endsieg der Unabhängigkeitsbewegung. Der spanische Diplomat und Literat Salvador de Madariaga deutet in seiner Bolivar-Biographie eine alternative Variante an. Bereits am Tag vor der Schlacht hätten einander Vertreter beider Seiten getroffen. Ein General soll das Treffen kommentiert haben: „Machen wir der Komödie ein Ende.“ Die Royalisten wollten nicht schmählich kapitulieren. Aber ihr Kampf war ohne Perspektive. Sie schlugen sich ein letztes Mal – und legten dann die Waffen nieder. In die Heimat zurückgekehrt, bildeten gerade diese „Ayacuchos“ ein catilinarisches Element innerhalb der Armee, die unter Ferdinands lebenslustiger Tochter Isabella II. gern in der Politik mitmischte.
Die USA vereinigten nach diversen Anläufen 13 ehemalige Kolonien zu einer potentiellen Großmacht. Spanisch-Amerika dagegen zerfiel in 13 oder 14 Einzelstaaten. Der Gegensatz zwischen indianisch-konservativen Hochlandstaaten (wie Guatemala oder Ecuador, die beide zuweilen mit der Rückkehr zu Spanien kokettierten) und liberalen Exportökonomien, die zum Freihandelsimperium der Briten zählten, blieb bestehen. Nur Brasilien, das sich ähnlich wie Iturbides Mexiko von einem revolutionären Portugal losgesagt und dabei die Dynastie behalten hatte, verband beide Elemente in einer monarchischen Synthese.
Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien