Seit dem Massenmord, den die palästinensische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 im Süden Israels an über 1.200 Menschen verübte, eskaliert der Nahostkonflikt auch in den Hörsälen westeuropäischer und US-amerikanischer Universitäten. Für den jüngsten Eklat sorgte am 17. Oktober der Sturm vermummter „Aktivisten“ auf das Präsidiumsgebäude der Freien Universität in Berlin-Dahlem. Sie forderten die „Befreiung Gazas“, drangsalierten Mitarbeiter, tobten sich am Mobiliar aus und konnten nur durch schnelles Eingreifen der Polizei an der Besetzung des Gebäudes gehindert werden. Über die Identität der Vandalen herrschte rasch Gewißheit: Auf der Plattform X rühmten sich „Students for Palestine“ des Überfalls und drohten, daß keine Institution hierzulande vor ihnen sicher sei, die den „israelischen Genozid in Gaza und Libanon“ unterstütze.
Das sind mittlerweile übliche militante Reaktionen an den bundesdeutschen Hochschulen im Belagerungszustand. Sofern die es wagen, Veranstaltungen mit Nahost-Bezug anzuberaumen, die den Verdacht erregen, Partei für Israels Selbstverteidigung zu ergreifen. So wie jener für den 18. Oktober an der Uni Freiburg avisierte Vortrag der Politologin Tina Sanders, der anhand des publizistischen Werkes des Holocaust-Überlebenden Jean Améry eine „Einführung in die Antisemitismuskritik“ geben wollte. Der wurde aber erwartungsgemäß storniert, weil die Rektorin, die CDU-nahe Neurowissenschaftlerin Kerstin Krieglstein-Unsicker, sich eine üble Denunziation des AStA zu eigen machte, die Sanders als „islamfeindlich“ brandmarkte.
Zwischen solchen Absagen aus Furcht vor Tumulten und (selteneren) massiven Polizeieinsätzen gegen Protestcamps und Hörsaalbesetzer schwanken seit Monaten die Reaktionen von Universitätspräsidien. Was offenkundig Selbstverständnis und Ansehen der Hochschulen als Bollwerken der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit zu erschüttern beginnt. Wie der akademische Normalbetrieb gegen derartige Einbrüche vorderasiatischer „Protestformen“ noch abzudämmen sein könnte, darüber tauschen sich in der Zeitschrift Hochschulwesen (1+2/2024) die ehemalige SPD-Berliner Finanzsenatorin und seit längerem bildungspolitisch engagierte Unternehmensberaterin Annette Fugmann-Heesing, der emeritierte Staats- und Verwaltungsrechtler Lothar Zechlin (Uni Duisburg-Essen) und Wolff-Dietrich Webler als Leiter des Bielefelder Instituts für Wissenschafts- und Bildungsforschung aus.
Die Debatte des Trios dokumentiert mit unbeabsichtigter Klarheit die ganze Hilflosigkeit des durch selbstauferlegte Denkverbote paralysierten kulturpolitischen Establishments im Umgang mit dem Islam. Der darf in diesen wohlversorgten behäbig-bourgeoisen Kreisen keinesfalls als Bedrohung wahrgenommen werden. Fugmann-Heesing warnt daher davor, anti-israelische Demonstrationen und Angriffe arabischer Studenten auf jüdische Kommilitonen mit den „Herkunftskulturen“ dieses muslimischen Mobs in Beziehung zu setzen. Denn solche rabiaten Interventionen würden nicht exklusiv von „international Studierenden“ bevorzugt, auch deutsche Studenten mischten hier kräftig mit. Sofern diese Störer randalierten, andere Studenten bedrohten und antisemitisch beschimpften oder Seminare blockierten, sei es zwar rechtlich zulässig, gegen sie polizeilich einzuschreiten. Aber rechtlich Gebotenes, rät Fugmann-Heesing, sei oft nicht das politisch Klügste. Stattdessen „ist der Dialog richtig und wichtig“, den Hochschulleitungen suchen sollten, soweit es auf der Gegenseite eine Bereitschaft dazu gebe, „keine größere Zerstörung“ zu registrieren und der „Universitätsfrieden“ so durch deeskalierendes Nachgeben zu bewahren sei.
Apologetischer Trumpf dieser Appeasement-Strategie ist die feinsinnige Unterscheidung zwischen erlaubter Israel-Kritik und verwerflicher Judenfeindschaft, wie sie das Trio virtuos beherrscht. Leider werde in der „aufgeregten politischen Debatte“ Kritik an der Politik Israels automatisch mit Antisemitismus gleichgesetzt, beschwert sich Fugmann-Heesing. Das wäre allenfalls zulässig, doziert Webler, wenn die Aktionen von „pauschaler Ablehnung aller Juden in der Welt“ und damit von „Juden als Juden“ diktiert wären. Was der Jurist Zechlin bisher nicht erkennen will, so daß er vorschlägt, lieber von keineswegs antisemitisch gemeinter „antiimperialistischer Israelfeindschaft“ zu sprechen.
Lieber von „antiimperialistischer Israelfeindschaft“ sprechen
So kommt die perfide Argumentation daher, die mit jenen schon stilistisch torkelnden Einlassungen seines Kollegen Ralf Michaels, des Direktors des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, korrespondiert, auf die Henryk M. Broder am 17. November in seiner Kolumnen auf achgut.com hinweist. Nicht alle „Israel-bezogenen Parolen“ seien „antisemitisch und gefährlich für Juden“, tönt Michaels. So forderten die meisten Demonstranten, die „From the River to the Sea“ oder „Free Palestine“ skandieren, ja lediglich, „daß Demokratie und Gleichberechtigung in dem ganzen Land erfolgen soll“. Derart zynisch feile man in den Chefetagen deutscher Elfenbeintürme so lange an einem Massenmordversprechen, bis es wie ein Friedensangebot klinge. Dem die Krone aufzusetzen sei dann dem FAZ-Journalisten und Islam-Versteher Patrick Bahners, dem „Lord Voldemort des deutschen Feuilletons“, vergönnt gewesen: Wenn Michaels die Auslöschung Israels suggeriere, bedeute das für Bahners nicht notwendig einen Genozid, sondern „nur“, daß ein „freies Palästina“ an die Stelle des Staates Israel trete.
Was also könnten deutsche Universitäten dazu beitragen, solche importierten Konflikte künftig zu entschärfen oder sie zu vermeiden, um sich weiterhin glaubwürdig als „Räume toleranten freien Denkens“ zu inszenieren? Unsere drei Bildungsexperten finden die Antwort überraschenderweise im guten alten Hochschulrahmengesetz (HRG) von 1974. Das den Bildungsauftrag wie folgt definiert: „Lehre und Studium sollen den Studenten auf ein berufliches Tätigkeitsfeld vorbereiten und ihm die dafür erforderlichen fachlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden so vermitteln, daß er zu wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeit und zu verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat befähigt wird.“
Angesichts der „schnellen Zunahme der Demokratie-Feindlichkeit“ sei dieser vielleicht historisch wirkende Bildungsauftrag aktueller denn je. Allerdings habe die Bologna-Reform von 1998 mit ihrer Aufteilung des Studiums in viele kleine Module und dem prüfungsfixierten „Häppchen-Lernen und -vergessen“ das zweite Studienziel in die Tonne getreten. Gerade das aber stehe in der Tradition Humboldts, die Allgemeinbildung als unverzichtbare Ergänzung der Fachbildung forderte: „Erziehung zur Mündigkeit“ hieß das von Immanuel Kant bis Theodor W. Adorno. Dieses ohne Allgemeinbildung nicht erreichbare „aufgeklärte“ Studienziel des „bürgerschaftlichen Engagements in der Zivilgesellschaft“ firmiert heute unter „Citizenship“, und unser Trio spekuliert darauf, daß es trotz der fundamental verschlechterten Bedingungen einer ethnisch-kulturell inhomogenen „Einwanderungsgesellschaft“ zu verwirklichen ist. Von mündigen Bürgern, so ihr Habermas-Mantra, die sich als Vernunftsubjekte von ihren kulturellen Prägungen befreit haben, um ihr Zusammenleben gemäß universalistischer Normen täglich neu auszuhandeln. Damit dieses Gesellschaftsexperiment gelingt, wäre die „Demokratieförderung“ in Schule und Hochschule, um die es in der Bildungsrepublik aktuell nicht gut bestellt sei, verstärkt auszubauen.
Das mag für kommende Generationen biodeutscher Schüler und Studenten eine realistische Perspektive sein. Aber für die Kohorten ihrer muslimischen Altersgenossen? Mündigkeit, selbstbestimmte Individualität, kreativer Geist wissenschaftlichen Hinterfragens, Beschränkung auf relative Wahrheiten sind in einem sie sozialisierenden, nur eine absolute Wahrheit verkündenden Glaubenssystem nicht vorgesehen, das „dem Menschen jegliche eigenständige Bestimmungsmacht, jegliche Möglichkeit eigenverantwortlichen Tuns“ abspricht (Tilman Nagel „Was ist der Islam? Grundzüge einer Weltreligion“, 2018).
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