© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/24 / 06. Dezember 2024

Wie linke Proteste gegen den Tourismus Spaniens Wohlstand bedrohen
Um Rückflug wird gebeten
Jorge Soley

Der Tourismus in Spanien wächst seit mehr als einem halben Jahrhundert immer weiter und weiter. Aus der halben Million, die Spanien noch im Jahr 1950 besuchten, wurden 1975 – dem Jahr, in dem Langzeitherrscher Francisco Franco starb – 27 Millionen. Diese Zahl stieg 1995 weiter auf 33 Millionen Touristen, auf 55 Millionen im Jahr 2005 und – nach einem Knick durch die Corona-Pandemie 2020 und 2021 – auf 85 Millionen Touristen im Jahr 2023. Spanien war damit das nach Frankreich am meisten bereiste Land auf der Welt.

Zuletzt verbrachten 89 Millionen Menschen jährlich ihren Urlaub im Pariser Louvre, der Abtei Mont-Saint-Michel in der Normandie oder an der Côte d‘Azur. Doch in Spanien übertreffen die Zahlen Stand jetzt sogar noch einmal den Vorjahresvergleich. Wenn es für die spanische Hotellerie gut läuft, werden Ende des Jahres mehr als 90 Millionen Menschen durch die parlamentarische Monarchie gereist sein. Die Einkünfte, die dadurch generiert werden, belaufen sich auf mehr als 92 Milliarden Euro. Das ist mehr als in Frankreich und wird nur noch durch die Tourismusindustrie in den Vereinigten Staaten überboten, die 2019 fast zwei Billionen US-Dollar erwirtschaftete.

Es ist daher schwer, die Bedeutung des Tourismus für die spanische Wirtschaft zu überschätzen. Dieser macht rund 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus und schafft annähernd zwei Millionen Arbeitsplätze. Tatsache ist, daß Spaniens BIP ohne Tourismus in den vergangenen Jahren sogar geschrumpft wäre. Und trotzdem verstummen die Stimmen nicht, die diesen Goldesel (oder, wenn man Anleihen aus der Fabelwelt bevorzugt, diese eierlegende Wollmilchsau) kritisieren und drastische Maßnahmen fordern, um den Tourismus einzuschränken. Sind die Spanier verrückt geworden?

Wie viele andere absurde und gefährliche Vorschläge auch beruht die Anti-Tourismus-Bewegung auf einer wahren Einsicht, die dann aber durch Ideologie völlig verunstaltet wurde.

Der Ausbau der spanischen Infrastruktur hat in den vergangenen Jahrzehnten immer mit der Entwicklung der Touristenzahlen Schritt gehalten. Autobahnen, Flughäfen und Hochgeschwindigkeitstrassen wurden auch mit dem Geld von Urlaubern erbaut. Wahr ist aber auch, daß die Regierung in Madrid gleichzeitig viele Projekte links liegengelassen hat, die nur deshalb nicht weiterverfolgt wurden, weil sie keine Wählerstimmen einbringen. Das restliche Schienennetz im Land – etwa in der Extremadura – kommt immer weiter auf den Hund. Der zuständige Minister kümmert sich jedoch lieber darum, die Opposition anzugreifen, als dafür zu sorgen, daß Spaniens Züge wieder zuverlässig fahren.

Doch selbst die großzügigsten Investitionen in die Infrastruktur des Landes können bestimmte Grundtatsachen nicht ändern. Die alten Straßen quer durch die historischen Stadtkerne – und da gerade die schönsten Plätze – können nicht künstlich vergrößert werden. Eben dort konzentrieren sich aber die berühmtesten Architekturdenkmäler und die begehrten Tapasbars.

Beispiel: Menorca. Auf der Baleareninsel leben etwa 100.000 Menschen, die meisten von ihnen in Mahón und Ciudadela. Jede der beiden Städte beherbergt etwa 30.000 Einwohner. Die etwa 1,5 Millionen Touristen, die jedes Jahr auf die Insel pilgern, sorgen vor allem im Sommer dafür, daß jeder Quadratmeter Strand und jeder Stuhl im Restaurant bereits Wochen im voraus hart umkämpft sind – sowohl für Einheimische als auch Touristen. Das bringt die Gemeinden vor Ort an ihre Grenzen und schadet allen.

In manchen Regionen des Landes sorgt diese Überlastung für berechtigte Empörung. Dabei ereignet sich immer wieder dasselbe skurrile Schauspiel: Frustriert von den Zuständen vor der eigenen Haustür, räumen viele Einwohner der Tourismushotspots ihr Zuhause und ziehen in weniger überlaufene Nachbarschaften. Ihre Häuser vermieten sie derweil selber an Urlauber, was die Zusammensetzung der touristisch erschlossenen Stadtviertel immer weiter verändert. Am Ende sind die betroffenen Gegenden oft nicht mehr wiederzuerkennen.

Traditionelle Ladengeschäfte, die für Touristen nicht von Interesse sind, verschwinden aus dem Straßenbild. Dafür schießen Souvenirshops wie Pilze aus dem Boden. Diese ganze Entwicklung bildet eine Art Kreislauf, der den Exodus der Einheimischen aus ihren Quartieren immer weiter verstärkt. Gleichzeitig treibt der Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten in den bei Touristen besonders beliebten Ecken die dortigen Quadratmeterpreise in die Höhe. Junge Erwachsene müssen der Nachbarschaft, in der sie aufgewachsen sind, daher oftmals den Rücken kehren. Dieser ganze Prozeß läuft darauf hinaus, daß gerade Spaniens schönste Plätze ihre Seele verlieren. Ohne die Menschen, die eigentlich dort hingehören, sind sie bald nur noch eine leere Kulisse für Urlaubsfotos.

Mehr und mehr Orte verkommen zu kleinen Disneylands, die nur noch für Reisende hergerichtet werden. Das ist etwa in Toledo der Fall, aber auch im Quartier „Santa Cruz“ von Sevilla oder im Gotischen Viertel von Barcelona. Wenn in Nordspanien die Höhle von Altamira nur von 260 Besuchern im Jahr besichtigt werden kann, weil sonst die Farbe der ersten in Europa entdeckten prähistorischen Malereien in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, dann bieten sich derlei Beschränkungen des Tourismus vielleicht auch an anderen, ähnlich überlaufenen Orten an. Oder?

Diese Idee, die noch nie eine Regierung ernsthaft ins Auge gefaßt hat, wurde nun von der radikalen Linken als Parole ausgegeben, da sie den Widerstand gegen den Tourismus als Beitrag zum Kampf gegen den Kapitalismus ansieht. Sie protestiert gegen Investitionen in die Urlaubsinfrastruktur und fordert, das Geld lieber dafür auszugeben, mehr Migranten willkommen zu heißen und Sozialwohnungen zu bauen. Wie immer „vergessen“ sie dabei geflissentlich, daß der Staat sein Geld nicht aus dem Hut zaubern kann.

Die radikale Linke versteift sich auf die Forderung, daß der Tourismus in Spanien drastisch heruntergefahren werden muß, um dem „Klimanotstand“ zu begegnen. Es sind dieselben Leute, die Flugzeuge dämonisieren und Kinderlosigkeit propagieren, um unseren „CO2-Fußabdruck“ zu verringern. Die „15-Minuten-Stadt“, in der man alle wichtigen Orte des Alltags innerhalb einer Viertelstunde erreichen kann, ist ihr Ideal – in dieser „Utopie“ ist es verboten, seinen Quadranten mit dem Auto zu verlassen. Natürlich klingt das nach einem Horrorszenario. Aber dieses Schreckensbild ist in Städten wie Oxford längst Wirklichkeit geworden. Doch kann dieses Revival der Technikkritiker und Maschinenstürmer die Tourismusindustrie in Spanien tatsächlich bedrohen?

Niemand bei klarem Verstand käme auf die Idee, in Anbetracht der hohen Urlauberzahlen und den damit verbundenen Einnahmen für die Privatwirtschaft und den Staat, diesen boomenden Sektor zu beerdigen. Gerade in den Regionen, in denen die größten Touristenströme zu Buche schlagen, die von den heftigsten Protesten geschüttelt werden, meldet sich kein Politiker mit derlei Plänen zu Wort.

Auf den Balearen, wo der Tourismus den mit Abstand bedeutendsten Wirtschaftszweig darstellt, werden 45 Prozent des BIP durch zahlende Besucher generiert. Auf den Kanarischen Inseln, die allein 2023 rund 14 Millionen Urlauber gesehen haben, lassen sich 40 Prozent aller Arbeitsplätze in der Touristik ansiedeln. Sind sich die Protestler im klaren darüber, in was für einer wirtschaftlich desolaten Umgebung – mit hoher Arbeitslosigkeit und ohne sonstige Industrie – sie ihren Aufstand da anzetteln? Was wären solche Gegenden ohne Touristen?

Daher traue ich mir an dieser Stelle durchaus eine Art Prophezeiung zu. Tourismus wird in Spanien auf absehbare Zeit nicht nur nicht verschwinden, sondern im Gegenteil immer weiter anwachsen. Der Sektor wird auch weiterhin auf Unterstützung und Protektion durch den Staat rechnen können. Gleichzeitig glaube ich, daß wir schon bald neuartige Maßnahmen sehen werden, mit denen der Tourismus im Land ein Stück weit gebändigt werden kann. Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits unternommen, rufen aber laut nach Verbesserungen.

Wenn Politiker in Reden sagen, daß sie das Modell „Qualitätstourismus“ anstreben, dann hat das nicht viel zu bedeuten. Weder kann es jährlich 90 Millionen „Qualitätstouristen“ geben, noch kann die spanische Tourismusbranche alles auf Luxushotels ausrichten. Auch Kurtaxen in Höhe einiger weniger Euro, wie sie bereits in manchen Städten erhoben und auf die Übernachtungspreise draufgeschlagen werden, stellen bestenfalls eine weitere Einnahmequelle für den Staat dar: Niemand hört auf, nach Sevilla zu fahren, nur weil es in letzter Zeit geringfügig teurer geworden ist.

Wahrscheinlich ist vielmehr, daß wir in naher Zukunft direkte Einschränkungen dort erleben werden, wo es heute bereits überfüllt ist – sei es beim Bau neuer Apartments für Touristen oder beim Zugang zu bedrohten Naturräumen. Schon jetzt gibt es Diskussionen darüber, die Zahl von Urlauberwohnungen an die generelle Bevölkerungsdichte an einem Ort zu knüpfen. Andere schlagen die Ausweitung sogenannter Lärmschutzgebiete vor, in denen keine neuen Clubs, Hotels und Bars mehr eröffnen dürfen.

Solche Regelungen würden dem Tourismus in Spanien kein jähes Ende setzen, sondern ihm vielmehr eine Ordnung anmessen, die er so dringend braucht, um endlich in geregelte Bahnen zu finden. Um so mehr sich die Einheimischen selber offen sichtbar um die Bewahrung der kulturellen Substanz in ihren Nachbarschaften bemühen, um so mehr wird das auch auf Besucher aus dem Ausland abfärben. Niemand will sein Geld ausgeben, um überlaufene Plätze zu sehen, die nur noch als Fassade für den nächsten Instagram-Post herhalten.

Das Ressentiment gegen den Tourismus, das es in Wahrheit nur auf die mutwillige Verarmung der spanischen Gesellschaft abgesehen hat, kann allerhöchstens eine Handvoll Menschen dazu bringen, nichtsahnende Touristen an den berühmtesten Plätzen unseres Landes anzuschreien – was dann als „große Story“ auf der Titelseite sämtlicher Zeitungen steht. Mehr wird daraus aber nie werden.

Selbst in Spanien, wo derzeit die albernsten Ideologien Hochkonjunktur feiern, existiert ein definitives Limit für Unsinn. Sollen sie doch Reden gegen den Klimawandel halten. Sollen sie doch die Rückkehr in die Steinzeit fordern – die Spanier werden trotzdem nicht auf die Idee kommen, ökonomischen Selbstmord zu begehen.



Jorge Soley, Ökonom, lehrt an der IESE Business School der Universität von Navarra und arbeitet für den katholischen Think Tank CEFAS sowie die Zeitung El Debat. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb der Buchautor zuletzt über den Separatismus in Katalonien (JF 31+32/24).