Geht man nach den Äußerungen der Kirchenvertreter, Politiker und Feuilletonisten hat Berlin seit dem 24. November einen der schönsten neuen Kirchenräume. Nach sechs Jahren Umbau wurde die St.-Hedwigs-Kathedrale am Berliner Bebelplatz neu eingeweiht. Der ehemalige Berliner Erzbischof, heute Erzbischof von Köln, Kardinal Woelki, der den Umbau initiiert hatte, zeigte sich „vollkommen überwältigt“, als er „den Raum“ betrat: „Ich war sprachlos ob der Helligkeit, der Größe und der Freiheit, die dieser Raum atmet.“ Erzbischof Heiner Koch, Woelkis Berliner Nachfolger, nannte die neue Kathedrale ein „Zeichen der Hoffnung“.
Die Äußerungen können kaum überraschen, schon gar nicht angesichts von über 44 Millionen Euro, die der Umbau gekostet hat. Doch auf die pflichtschuldige Begeisterung folgten die Verdammungsurteile. Die Publizistin Birgit Kelle sprach von der „neuen Berliner Kirchenschrecklichkeit“, von einer „Bahnhofshalle“. Nichts sei hier heilig, „das Licht zu grell, die Wände zu weiß, die Ehrfurcht vor dem Heiligen zu niedrig“. Der katholische Journalist Alexander Kissler bezeichnete den Innenraum als „Meisterwerk an agnostischer Orientierungslosigkeit“.
Kevin Gensheimer verglich in der Berliner Zeitung die neue Kathedrale mit einem „protestantischen Schullandheim“. Als Katholik könne man nur hoffen, „daß der liebe Gott nicht so brutal ist wie dieser kalte, steinerne Klotz“. Er meinte den halbkugelförmigen Altar in der Mitte des Baus, um den kreisförmig Stühle angeordnet sind. Katholisch könne der Bau nicht sein, „so kühl, so nackt und herzlos sehen katholische Kirchen eigentlich nicht aus“.
Die wiedereröffnete St.-Hedwigs-Kathedrale in ihrer jetzigen Form stellt den traurigen Status quo des katholischen Kirchenbaus dar, wie er sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Der Kirchenraum spiegelt den radikalen Wandel der katholischen Liturgie und Meßtheologie wider, was aber nicht als Bruch, der sich in Berlin manifestiert, sondern als harmonische Fortentwicklung ausgegeben wird. Der Altar steht auf derselben Ebene wie alles andere. Früher stieg man über Treppen hinauf, wie Christus nach Golgotha. In Berlin sehen sich alle ebenerdig an, die Gläubigen und der am Altar zelebrierende Priester oder Bischof. Die Hierarchie ist sichtbar aufgehoben, die innerkirchliche Egalität architektonisch erreicht, was der Berliner Erzbischof als „überwältigend“ bezeichnete. Die Versammlung um den Altar drücke „sehr schön den synodalen Charakter der Kirche aus“, sagte er. „Eine Gemeinschaft, die sich gemeinsam um Christus versammelt, gemeinsam unterwegs ist.“
Das klingt schön, hat aber einen gewaltigen Pferdefuß. Nicht auf Christus, der Gleicher unter Gleichen sein soll, richtet sich der gemeinsame Blick der Gläubigen, sondern auf den anderen, was ungeachtet aller gebotenen Nächstenliebe den Blick verschiebt. Es geht um Gemeinschaft, nicht um Anbetung Gottes, der sich am Kreuz für unsere Sünden hingab, was der eigentliche Kern der heiligen Messe ist. „Selbst der Erzbischof sitzt mit im Stuhlkreis der Gleichseienden“, schreibt die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Juliane Uhl.
Aus diesem Stuhlkreis scheint der Herr auch in einer weiteren Hinsicht verbannt. Der Tabernakel, der Aufbewahrungsort des Allerheiligsten, befand sich früher direkt auf dem Hochaltar, wanderte dann, als die Volksaltäre mit der Liturgiereform der 1970er Jahre vor den Hochaltar plaziert wurden – wenn der Hochaltar nicht zerstört wurde –, oft an einen anderen Platz in der Kirche. Der Tabernakel, obwohl er das sein sollte, war nicht mehr Zentrum der Kirche. In Berlin wurde er links der Sichtachse in eine der acht Fensternischen gestellt, „außerhalb des Stuhlkreises, wie ausgeschlossen aus der Gemeinschaft“, so Christian Rudolf für das christliche Online-Magazin Corrigenda.
Jeder kann den Altar anfassen, es fehlt die Distanz
Das Geheimnis, das die Gegenwart Christi im Allerheiligsten umgibt, hat nur noch einen Platz am Rande. Es ist alles bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, die von vielen so lobend erwähnte Helle des Raumes. Die Distanz, die zum Geheimnis des heiligen Geschehens, zur Ehrfurcht und Anbetung gehört, ist ebenfalls verschwunden. Jeder kann den „heiligen Boden“ des nicht mehr vorhandenen Altarraums durchschreiten, den Altar anfassen, ja seine Tasche darauf abstellen.
Die Neugestaltung der Berliner Kathedrale verstößt damit gegen das Zweite Vatikanum, gegen die Allgemeine Einleitung zum Meßbuch Pauls VI. und die Kirchenkonstitution des Konzils „Lumen Gentium“, wo von einer „gemeinschaftlichen und hierarchischen Ordnung“ die Rede ist, die sich auch im Kirchenbau zeigen sollte. Der 24. November, der Eröffnungstag der Berliner Kathedrale, sei der „Todestag des Altarraums“, schrieb Pfarrer Wolfgang Tschuschke.
Foto: Stuhlkreis um den halbkugelförmigen Altar im neu gestalteten Innenraum der Sankt-Hedwigs-Kathedrale am Bebelplatz in Berlin-Mitte
Foto: Innenansicht von St. Hedwig, Fotopostkarte um 1935: Im Auftrag von Friedrich dem Großen nach Plänen des Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff ab 1747 errichtet
Angesichts dieser Reduktion der Berliner Bischofskirche zum kalten, in grelles OP-Licht getauchten, hierarchiefreien, multireligiösen Versammlungsraum erscheint es wenig überraschend, daß das Kreuz, das Heilszeichen in Berlin nur noch fast unsichtbare Zutat ist. Von der Kuppel wurde es nach vorne auf den Tympanon weggeschoben, um „näher bei den Menschen zu sein“. In der Kathedrale ist es neben dem Altar so unscheinbar, daß man fast darüberstolpert.
Berlin ist die Zuspitzung einer fatalen Entwicklung. Es gibt unzählige Kirchen, die unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil oder schon währenddessen ausgeräumt und radikal umgestaltet wurden. Unter Berufung auf liturgische Notwendigkeiten werden seitdem Altäre und Lesepulte eingebaut, die oft in krassestmöglichem Gegensatz zur historischen Gestalt der Kirche stehen. So erst jüngst geschehen in Bergisch Gladbach oder im niederbayerischen Aldersbach. Das Feuilleton, die progressiven Kreise inner- und außerhalb der Kirche waren und sind begeistert, mochte die Neugestaltung auch so brutal sein wie etwa in der neogotischen Pfarrkirche St. Nikolaus in Rosenheim.
Eine Art halbkugelförmiger Volksaltar wie in Berlin findet sich auch in der nach dem Brand renovierten Pariser Kathedrale Notre-Dame, die bald wiedereröffnet wird. Ein Kommentator meinte sarkastisch, da sei sie: „die andere Hälfte des Berliner Altars“. Die neuen Kultgegenstände der Pariser Kathedrale erweckten den Eindruck, schrieb David Engels, „man habe sie aus einer beliebigen brutalistischen Provinzkirche nach Paris gebracht, obwohl sie allesamt eigens zu horrenden Preisen für Notre-Dame angefertigt worden sind“.
Auch die Pariser Kathedrale ist nun strahlend weiß. Der „Schmutz ist runter“, meinte in unpoetischer Offenheit die Architektin Barbara Schock-Werner. Die neue Notre-Dame erscheint in vielen Artikeln als Tempel des zivilreligiösen Zusammenhalts, den man auch in der Berliner Kathedrale feiern würde, so der Regierende Bürgermeister Kai Wegner. Die Berliner Kathedrale sei nicht häßlich, meinte Juliane Uhl, „sie ist zerstörerisch. Durch ihre glattgebügelte Optik, ... durch das Gefühl des Nichts ist sie ein Zeichen für eine Gesellschaft, die das Transzendente erwartet, indem sie um sich selbst kreist.“
Die Kirche will nicht mehr Dorn im Fleische einer selbstzufriedenen Gesellschaft sein, sondern ihre pseudospirituelle Bestätigung. So gesehen hat der Berliner Erzbischof schon recht, wenn er sagt, die Liturgie in der Bischofskirche solle „vorbildlich für das ganze Bistum sein“. Sie ist es längst weit darüber hinaus.