© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/24 / 06. Dezember 2024

Das falsche Gesicht
Kino II: Die Filmparabel „A Different Man“ überrascht mit einem provokanten Beitrag zum Thema Selbstbestimmung und Inklusion
Dietmar Mehrens

Alles Unglück im Leben kommt davon, daß man nicht akzeptiert, wie es ist“, sagt ein Nachbar zu Edward (Sebastian Stan). Aber der Mann hat gut reden. Er sieht ja nicht aus wie der mißgebildete „Elefantenmensch“ im gleichnamigen Filmklassiker von David Lynch aus dem Jahr 1980 oder wie der verunstaltete Held, den Mel Gibson in seinem Regiedebüt „Der Mann ohne Gesicht“ (1993) verkörperte. Und trotzdem hat der amerikanische Filmemacher Aaron Schimberg seiner bemerkenswert tiefsinnigen Filmparabel „A Different Man“ mit diesem Satz gleich zu Beginn die Botschaft eingemeißelt, an der ihm, als er sein Drehbuch schrieb, offenkundig gelegen war.

Sein wenig zu großen Sprüngen aufgelegter Protagonist ist eher das Gegenteil von einem strahlenden Filmhelden. Er heißt Edward und seine bislang größte biographische Errungenschaft ist eine kleine Rolle in einem altruistischen Imagefilm, mit dem Missionare der Nächstenliebe für Inklusion und Akzeptanz werben möchten. Nicht diejenigen, denen man ihr Anderssein auf den ersten Blick gar nicht anmerkt, stehen dabei im Blickpunkt, sondern Menschen wie Edward, die durch eine Krankheit oder Behinderung fürs Leben gezeichnet und zum Außenseiterdasein verdammt sind. So jedenfalls scheint es Edward, der eigentlich in einem Maklerbüro beschäftigt ist, zu sehen. Doch seine neue Nachbarin Ingrid Vold (Renate Reinsve), eine angehende Theaterautorin, straft Edwards Selbstbild Lügen. Sie ignoriert seine unsagbare Häßlichkeit einfach und freundet sich rasch mit dem stillen Mann von nebenan an. Als Symbol ihrer Freundschaft schenkt er ihr eine alte Schreibmaschine.

Linksliberale Reparatur- und Optimierungslogik

Als der Entstellte sich wegen einer Verletzung in Behandlung begeben muß, plötzlich das verlockende Angebot: Als Proband darf er sich einer experimentellen Therapie unterziehen. Tatsächlich beginnen die Wucherungen, Pocken und Pusteln, die sein Gesicht in ein Trümmerfeld verwandeln, sich von seiner Haut zu lösen und wie unter einer Maske kommt schließlich das Gesicht eines attraktiven Vierzigjährigen zum Vorschein, in den sich Ingrid prompt verliebt. Den alten Edward hat der Genesene kurzerhand zu einem Todesfall erklärt und eine neue Identität angenommen. Die alte Wohnung neben der von Ingrid hat er geräumt.

Die probt ein paar Wochen später in einem kleinen Theater für eine Off-Broadway-Produktion mit dem Titel „Edward“. Es ist seine und Ingrids gemeinsame Geschichte, die die inzwischen zur Regisseurin aufgestiegene Dramatikerin auf die Bühne bringen will. Edward, der sich jetzt Guy nennt, kann Ingrid rasch davon überzeugen, daß niemand die Hauptrolle in dieser (seiner eigenen) Geschichte besser spielen kann als er, und übernimmt den Part. Für die Rolle benutzt er die Maske, die im Rahmen der Behandlung von seinem alten Gesicht angefertigt wurde. Die Wirkung ist verblüffend.

Dann taucht auf einmal der ebenfalls stark entstellte Oswald (Adam Pearson) auf, der völlig anders mit seinem Makel umgeht als Edward in seinem früheren Leben. Er ist leutselig, jovial, eloquent und hat sogar den Mut, sich auf eine Gesangsbühne zu stellen und ein Liedchen darzubringen. Oswald ist das Paradebeispiel gelungener Inklusion, weil er sein Umfeld dazu zwingt, ihn so zu sehen, wie er sich selbst sieht: als Mensch unter Menschen. Das wirkt auf Ingrid so attraktiv, daß sie sich in Oswald verliebt. Auch auf der Bühne verdrängt Oswald Edward. Trotz seines makellosen Gesichts stürzt die Fassade all dessen, was Edward diesem zu verdanken glaubt, in sich zusammen. War die Therapie ein Fehler?

„A Different Man“ ist eine sagenhaft kluge Parabel, in der das zeitlose Thema des gestörten Verhältnisses zur eigenen Physiognomie, das schon Oscar Wilde beschäftigte, voll einbricht in die sehr konkreten aktuellen Debatten um Minderheitenrechte, Selbstbestimmungsgesetze und sogenannte Transitionen. Schimberg thematisiert Selbstannahme- und Identitätsstörungen, fragt nach Sinn oder Unsinn von medizinischen Eingriffen und stellt die angenommenen Ursachen für mißlingende Inklusion auf den Prüfstand. Sein Film rüttelt an den Grundfesten der linksliberalen Reparatur- und Optimierungslogik, indem er deren Grundvoraussetzung, dem defätistischen Defizit- und Defekt-Subjektivismus, die Autorität abspricht. Die nachhaltige Wirkung der Reparaturmaßnahmen stellt der Regisseur durch die satirische Überzeichnung seines Fallbeispiels in einer sich zunehmend zur Groteske steigernden Geschichte fundamental in Frage. Das ist provokant, unangepaßt und künstlerisch radikal. Einfach grandios.

Außenseiter Edward (Sebastian Stan): Er unterzieht sich einer experimentellen Therapie

Kinostart ist am 5. Dezember 2024