© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/24 / 06. Dezember 2024

„Alt und krank und nix zu verlieren“
Kino I: In „Toni und Helene“ reisen zwei Seniorinnen in die Schweiz und erleben das Abenteuer ihres Lebens
Dietmar Mehrens

Zugegeben, ganz neu ist die Masche nicht, mit der die Anfangsszene von „Toni und Helene“ Aufmerksamkeit heischt, die Aufmerksamkeit eines nicht mehr ganz jungen Publikums übrigens: Man sieht zwei Frauen am Steuer eines Kleinwagens, die ganz schön in der Klemme stecken. Hatte man das nicht ganz ähnlich schon im Film „Töchter“ mit Alexandra Maria Lara und Birgit Minichmayr gesehen (JF 40/21)? Auf dem Höhepunkt der Tragikomödie hing ein eigentlich noch fahrtüchtiges Auto mitten in der italienischen Kleinstadt Stresa auf einmal in der Luft, und die Reise in eine Schweizer Sterbeklinik mußte erst mal unterbrochen werden. Eine Sterbeklinik in der Schweiz ist auch für die beiden angejahrten Heldinnen Toni und Helene in dieser österreichischen Komödie das Ziel. Hier ist es die Polizei, die den Wagen stoppt.

Der etwas liberalere Umgang der Eidgenossen mit dem menschlichen Wunsch, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, war schon häufiger Thema im Kino. Auch Pedro Almodóvar, der spanische Regie-Titan, nahm sich in seinem neuen Film „Der Raum nebenan“, soeben in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet und seit dem 24. Oktober auch bei uns im Kino zu sehen, des heiklen Themas an.

Auf dem Weg zum betreuten Suizid

Nicht persönliche Freundschaft wie in „Töchter“ und „Der Raum nebenan“, sondern eine schicksalhafte Zufallsbegegnung ist es, die die beiden Titelheldinnen von „Toni und Helene“ zu einer Fahrgemeinschaft zusammengeschweißt hat: Toni (Margarethe Tiesel) hat sich nach einem Sturz eine Kur in einer Heil- und Pflegeeinrichtung verordnen lassen. Dort ist die anfangs reserviert wirkende Helene (Christine Ostermayer) ihre Nachbarin. Wo hat sie die nur schon mal gesehen? Richtig: im Fernsehen. Dort war die Schauspielerin a. D. zwar schon länger nicht mehr zu sehen, und von Fremden darauf angesprochen werden möchte sie schon gar nicht. Im Gegensatz zur impulsiven Toni liebt sie nämlich Ruhe und Ordnung. Aber als Toni der infolge ihres schweren Krebsleidens auf den Rollstuhl angewiesenen 86jährigen ihre Dienste als Fahrerin anbietet, ist das ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann. Ihr übergriffiger Neffe hat nämlich Wind davon bekommen, daß Helene zu einem betreuten Suizid in die Schweiz fahren will. Ihre Erklärung dafür klingt einleuchtend: „Da läuft alles mit Präzision.“ Operation, Chemotherapie, alles habe sie schon durchgemacht, erklärt sie ihrer Mitpatientin. Und alle Leute, die ihr etwas bedeutet hätten, seien tot.

Trotzdem tut ihr Neffe alles, um die Reise ins Nachbarland zu verhindern. Er ist nämlich Mitglied einer christlich-konservativen Partei und fürchtet sowohl um das Seelenheil seiner Tante als auch um seine Karriere, falls der Skandal herauskommt. Da fragt man sich schon, auf welchem Planeten die beiden Filmemacher Gerhard Ertl und Sabine Hiebler zu Hause sind. Eingeschüchtert vom säkularen Zeitgeist, wagt doch schon längst kein Politiker (und übrigens auch kein Kleriker) mehr, von Verstößen gegen die christliche Sittenlehre oder gar, wie Helenes Neffe, von der Hölle zu reden.

Unterwegs geschieht viel Unerwartetes. Es stellt sich beispielsweise heraus, daß Toni gar keinen Führerschein hat. Ein Ententanz, Telefonterror seitens des besorgten Neffen, ein Dissens mit einem Tankwart sowie Streß mit Polizisten und Zollbeamten säumen den Weg der beiden ungleichen Seniorinnen auf dem Weg in den Tod. Zwar ist das Damenduo nicht so kriminell wie die beiden Heldinnen in Ridley Scotts „Thelma und Louise“ (1991), an die man das eine oder andere Mal denken muß, und ein desaströses Ende gibt es auch nicht; trotzdem schafft es das Damendoppel recht gut, sein Publikum auf Trab zu halten – mit Wiener Schmäh und Schlagfertigkeit. Die vielen erheiternden Momente lassen den eigentlichen Zweck der Reise ganz aus dem Blick geraten.

Gerhard Ertl und Sabine Hiebler, die gemeinsam auch das Drehbuch verfaßten, haben sich einiges abgeguckt bei den vielen Vorbildern, die es für die Filmidee gibt, ungleiche Helden mit einem fahrbaren Untersatz auf eine Reise ins Ungewisse zu schicken. Gleichwohl ist nicht alles in „Toni und Helene“ vorhersehbar. Am Zielort Zürich warten auf die beiden Ösi-Omas (und die Zuschauer) noch ein paar faustdicke Überraschungen. Für eine davon sorgt Helenes ehemalige Schauspielschülerin Thea (Julia Koschitz), die in der Schweizer Metropole gerade für eine Theateraufführung probt. Und auf einmal verschmelzen Fiktion und Wirklichkeit miteinander.

Worin die Handlung in Zürich gipfelt, ist nämlich nicht nur eine Verneigung vor der Lebensleistung von Helene, sondern auch vor der ihrer Darstellerin, der österreichischen Volksschauspielerin Christine Ostermayer, die in den Siebzigern in einer Reihe von Shakespeare-Bearbeitungen für den ORF und vor ein paar Jahren auch in der bemerkenswerten ARD-Produktion „Göttliche Funken“ (2014) zu sehen war. Dieser doppelte Boden verleiht der österreichischen Filmkomödie einen ganz besonderen Charme. Und über den verfügen ihre beiden renitenten Heldinnen selbstverständlich auch. 

Foto: Helene (Christine Ostermayer) und Toni (Margarethe Tiesel)

Kinostart ist am 5. Dezember 2024