Vor gut vier Wochen wurde der aus Beirut stammende Kurator und Schriftsteller Edwin Nasr vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten zu einer Strafe von 50 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt. Grund für das Verfahren waren Posts, die Nasr unmittelbar nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 ins Netz gestellt hatte und von denen das Gericht befand, daß sie das Verbrechen billigten.
Ein Beitrag enthielt drei Bilder von israelischen Ravern, die vom Supernova-Tanzfestival flohen. Darüber standen in rotem Fettdruck die Worte „Poetic Justice“ (Poetische Gerechtigkeit). Ein anderer Beitrag zeigte das Fotos eines jungen israelischen Mädchens, das während des zweiten Libanonkriegs 2006 eine für das Nachbarland bestimmte Rakete signierte. Nasr hatte dazu geschrieben: „Erinnern Sie sich an diese Ikone der Siedler-Unschuld?“ Auf einem zweiten Foto war eine israelische Raverin zu sehen, die vom Tanzfestival flüchtet, mit dem Kommentar: „Das ist sie jetzt.“ Ein weiterer Beitrag enthielt eine historische Illustration von schwarzen Soldaten, die zwei weiße Soldaten an Schlingen aufhängen. Nasrs Kommentar lautete: „Zur Hölle mit jedem, der zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage ist, die Schönheit revolutionärer Gewalt zu erkennen oder sich ihr hinzugeben, selbst (wenn nicht gerade), wenn sie Szenen ‘unerträglicher’ Brutalität hervorbringt.“
Die Posts blieben nur 24 Stunden im Netz. Bekannt gemacht wurden sie durch einen Welt-Journalisten, der auch Anzeige erstattete. Nasr wies die Aschuldigung zurück: Er habe zu dem Zeitpunkt nicht gewußt, daß ein Massenmord stattgefunden hatte; vielmehr habe er auf die Gleichgültigkeit der Raver für das Leid der Palästinenser aufmerksam machen wollen. Sein Anwalt ergänzte, daß sein Mandant an harmlose „Störungen durch Gleitschirm-Flieger“ geglaubt hatte.
Das Gericht nahm ihm das nicht ab, weshalb Nasr sich im Malstrom eines „revanchistischen und rassistischen Medienspektakels“ sieht. Sein Anwalt kritisierte zudem eine Ungleichbehandlung: „Ich habe noch keine einzige Anklage der Staatsanwaltschaft gesehen, wo die Verbrechen Israels mit 40- bis 50fachen Todeszahlen, die ein Gebiet täglich mit Bomben überziehen und unbewohnbar machen, gebilligt werden.“ Dabei handle es sich um „schwerste völkerrechtliche Verbrechen“.
Tatsächlich wirft das Verfahren Fragen auf. Natürlich ist unanständig, über Menschen in Todesangst seinen Hohn zu ergießen. Andererseits ist es in Deutschland durchaus üblich und fällt unter die Kunst-, Satire- und Meinungsfreiheit, Massenmorde nicht nur zu billigen, sondern sogar zu feiern, wenn sie nur die Richtigen betreffen. Man denke an die Losung „Bomber Harris, do it again“, die alljährlich im Zusammenhang mit dem Dresden-Bombardement von 1945 verbreitet wird. Im Februar 2014 ließ sich die Feministin Anne Helm vor der Silhouette der Dresdner Hofkirche mit nackten Oberkörper ablichten, auf dem „Thanks Bomber Harris“ geschrieben stand. Zwei Jahre später zog sie für die Linke ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Eine ähnlich geartete Zeitgenossin fand es lustig, den Reim zu posten: „Sauerkraut, Kartoffelbrei – Bomber Harris, Feuer frei.“ Auch das zog keine Sanktionen nach sich. Und 2018 stellte der Blog Ruhrbarone zum Jahrestag der Zerstörung der sächsischen Metropole ein Diagramm ins Netz, das die „Tageshöchsttemperaturen in Dresden im Februar 1945“ anzeigt. Die dreitägigen Luftangriffe sind dort mit 900 Grad markiert. Der Kommentar: „Eine interessante Statistik“. Zu den Mitbegründern der Ruhrbarone gehört David Schraven, heute Gesellschafter und Geschäftsführer des staatsnahen „Recherchebüros Correctiv“.
Noch in anderer Hinsicht ist die erste Verurteilung eines – wie die Medien ausdrücklich betonen – „Kulturschaffenden“ bemerkenswert. Nasr ist nach eigenen Angaben 2022 im Zuge der Wirtschaftskrise im Libanon nach Deutschland gekommen, um von hier aus seine Familie finanziell zu unterstützen. Er ist ein Beispiel dafür, wie die Politik der offenen Grenzen zu einer immer größeren Vielfalt der Perspektiven, Meinungen, Ansichten in zentralen politischen Fragen führt.
Auf der Website der Universität der Künste in Berlin erfährt man, daß seine Forschungen „sich im wesentlichen mit der Kunstpraxis und der Fähigkeit der materiellen Kultur, Räume der Vereinnahmung und Extraktion lesbar zu machen“, befassen. Es ist nachvollziehbar, daß aufgrund seiner Herkunft und Biographie ihn die Vereinnahmung und Herauslösung palästinensischer Gebiete durch israelische Siedler anders und intensiver berührt als einen Springer-Journalisten. Seine Haltung auf Antisemitismus zu reduzieren, geht an der Sache vorbei.
Nun sind Meinungen, wie Nasr sie vertritt, im universitären und im Kulturbetrieb offenbar mehrheitsfähig, während Unterstützer oder auch neutrale Analytiker der israelischen Politik dort einen schweren Stand haben. Auf deutschen Straßen werden Meinungsäußerungen geduldet, die nicht nur gegen die aktuelle Regierung, sondern gegen den Bestand des Staates Israel gerichtet sind. Insofern ist die Verurteilung Nasrs als ein symbolischer Akt und ein später Ausläufer einer holocaustzentrierten Zivilreligion zu verstehen.
Eines der inkriminierten Postings enthält den Satz: „Ich habe weder Fanon-Zitate noch klare Analysen in mir, die ich teilen könnte, in der Hoffnung, die Selbstgefälligen und Ratlosen unter uns davon zu überzeugen, daß der antikoloniale Kampf zwangsläufig Blutvergießen mit sich bringt.“ Die darin enthaltene Brisanz ist den Kommentatoren völlig entgangen. Folgt man der Spur, dann stößt man zunächst auf einen Aufruf des Edwin Nasr, wo es heißt: „Gaza wird bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Welche Verantwortung tragen wir als Künstler, um das zu verhindern?“ Zu den Unterzeichnen zählt auch Nasr.
Der Text wendet sich gegen Tendenzen, propalästinensische Positionen im internationalen Kulturbetrieb zum Schweigen zu bringen und „palästinensische und dekoloniale Künstler und Kulturschaffende“ auszuschließen. Er ruft dazu auf, Boykottmaßnahmen zu dokumentieren, Protest dagegen einzulegen und alternative Finanzierungsstrukturen für die Betroffenen aufzubauen.
Die Brisanz liegt vor allem in der Berufung auf Frantz Fanon (1925–1961), den von den Antillen stammenden Verfasser der Streitschrift „Die Verdammten dieser Erde“ (1961), einer Grundlegung der Antikolonialismus-Theorie. Das bedeutet, daß der israelisch-palästinensische Konflikt als eine spätkoloniale Auseinandersetzung wahrgenommen wird, in der Israel den westlichen Kolonialismus und die Palästinenser dessen Opfer darstellen.
Für Fanon war die staatliche Unabhängigkeit nicht der Abschluß, sondern erst der Auftakt der Entkolonialisierung. Der gesamte Reichtum Europas, meinte er, beruhe „buchstäblich“ auf der Ausbeutung der Kolonien. Die Kolonisatoren hätten sich als „wahre Kriegsverbrecher aufgeführt. Deportationen, Blutbäder, Zwangsarbeit, Versklavung sind die Hauptmittel der Kapitalisten zur Vermehrung ihrer (...) Reichtümer und Machtpositionen gewesen.“ Genauso wie die europäischen Nationen von Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Reparationen und die Rückerstattung des Geraubten verlangt hätten, habe nun auch Afrika das Recht, von Europa zu verlangen, das Geraubte zurückzugeben.
Adenauers Bitte um Verzeihung und die Wiedergutmachung an Israel betrachtet er als Blaupause für das, worauf die in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonien gegenüber Europa Anspruch hätten. In einem früheren Aufsatz, „Schwarze Haut, weiße Masken“ (1952), erwähnte Fanon ausdrücklich die Verbrechen an den Juden, denen er jedoch eine mindere Qualität im Vergleich mit den Kolonialverbrechen zuwies. Denn der Jude „ist ein Weißer“ und habe als solcher in einer von Weißen dominierten Welt die Chance, unbemerkt zu bleiben. Anders verhalte es sich mit den Schwarzen, die „von außen überdeterminiert“ seien.
Breiten Raum nimmt bei Fanon die Gewaltfrage ein. Die Gewalt, die er endlich ausübt, wirke auf den lange Gedemütigten „entgiftend“ und rehabilitiere ihn als freien Menschen. Zugleich stifte sie eine neue, selbstbewußte, entschlossen-emanzipierte Gemeinschaft. Fanon zitiert aus einem Drama des afro-karibischen Schriftstellers Aimé Césaire (1913–2008), einen Begründer der Négritude, der geistig-kulturellen Rückbesinnung der Schwarzen auf ihre afrikanischen Wurzeln. Schwarze Rebellen dringen in das Haus eines weißen Sklavenhalters ein und ermorden ihn. Für sie ist es ein „fruchtbarer und üppiger Tod“, eine „Taufe“.
Jean-Paul Sartre hatte für „Die Verdammten dieser Erde“ ein Vorwort vefaßt, in dem er die Gedanken Fanons noch zuspitzt. Der Furor, der aus der Dritten Welt über Europa hereinbricht, könne vielleicht gebremst, aber nicht mehr aufgehalten werden, und überhaupt lohne der Versuch sich nicht. Denn indem Europa die anderen beschädigte, habe es sich selber beschädigt. Sartre hat nicht nur Verständnis dafür, sondern begrüßt ausdrücklich, daß im kollektiven Unterbewußtsein der Kolonisierten „die Mordlust“ der Möglichkeit zum Ausbruch entgegenfiebert: „Denn in der ersten Zeit des Aufstands muß getötet werden: einen Europäer zu erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“
Es handele sich nicht um die Eruption wilder Instinkte, vielmehr komme darin „der sich neu erschaffende Mensch“ zum Vorschein und emanzipiere sich zum geschichtlichen Subjekt, während die Weißen in die Objekt-Position gerieten und einsehen müßten, daß sie „die Feinde der menschlichen Gattung sind“. Durch Sartre bekommt man eine Ahnung, warum eine Linke, die sich ursprünglich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat, sogar mit Islamisten sympathisieren kann.
In der DDR-Ausgabe der Schriften Fanons wurde Sartres Vorwort gestrichen. Es galt, die Allgemeingültigkeit des Marxismus-Leninismus zu bewahren. Mit dem Lobpreis individuellen Terrors und einem autoaggressiven Rassismus konnte man hier nichts anfangen. Im Nachwort wurden denn auch die existentialistischen, psychologisierenden und kulturalistischen Theorien Fanons moniert; man schrieb ihm aber das Verdienst zu, die „Rassen- mit der Klassenfrage“ verbunden zu haben und damit – unbewußt –, „auf dem Fundament von Lenins Satz von den zwei Kulturen“ operiert zu haben. Fanon und seine Anhänger sollten eingereiht werden in das antiimperialistische Fortschrittsbündnis aus den sozialistischen Staaten, der kommunistischen Bewegung und den nationalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt.
Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers ist der Marxismus nicht gänzlich erledigt, doch die Arbeiterklasse, die im Westen – in den Augen der Linken – bereits durch Wohlstand korrumpiert war, ist damit als revolutionäres Potential endgültig ausgefallen. Es wird nun, auch um den Preis der Selbstgefährdung, aus der Dritten Welt – Fanon versteht sie als das „Sturmzentrum“ – importiert. Edwin Nasr ist weniger als Person denn als Symptom von Interesse. Über ihn heißt es auf der Website der Universität der Künste: „Er stützt sich in erster Linie auf die Marxsche Klassentheorie und Literatur über die Beziehung zwischen zeitgenössischer Kunst und Klasse.“ Marx wird identitätspolitisch und postkolonial komplettiert durch Fanon, Césaire und Sartre. Das Bild der schwarzen Soldaten, die zwei Weiße erhängen, ist die Essenz dieser Synthese. Das Vorgehen Israels bietet lediglich den – zugegeben: furchtbaren – Anlaß.
Da kommt was auf uns zu.
Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre. Suhrkamp, Berlin 1981 (akt. Aufl. 2024), broschiert, 267 Seiten,12 Euro
Foto: Brandenburger Tor: Im Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 und vor dem Hintergrund des Terrorangriffs der Hamas auf Israel wurde das Berliner Bauwerk bei einer Solidaritätsveranstaltung im Dezember vorigen Jahres für einige Stunden mit dem Schriftzug „Nie wieder ist jetzt“angestrahlt. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner warnte auf der Kundgebung vor Antisemitismus auf Deutschlands Straßen und in den Sozialen Medien.