Deutschland sei „alles mögliche, aber bestimmt kein solidarisches Land“, findet Ulrich Schneider, von 1999 bis 2024 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV). Der Politik sei es trotz der Entlastungspakete nicht gelungen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, beklagt das frühere Linkspartei-Mitglied in seinem aktuellen Buch „Krise. Das Versagen einer Republik“. Und der aktuelle Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung gibt ihm recht: „Von der insgesamt positiven Wirtschafts- und Einkommensentwicklung im vergangenen Jahrzehnt hhätte Arme „vergleichsweise wenig abbekommen“, schreiben die Studienautoren, die beiden Soziologen Dorothee Spannagel und Jan Brülle.
Einkommensungleichheit und Armut hätten seit 2010 deutlich zugenommen. Die Sorgen, ob man künftig noch den gewohnten Lebensstandard halten kann, treiben inzwischen auch große Teile des Mittelschicht um. Die Grundlagen für diese existenzbedrohende Entwicklung wurden unter Gerhard Schröder und Angela Merkel gelegt. Die Ampel hat diese Entwicklung mit weiteren weiteren Gesetzen vollendet: Energiewende, Klimapolitik und anhaltende Masseneinwanderung sind die teuersten Fehler. Dann kam noch die „Zeitenwende“ hinzu. Folgen waren Deindustrialisierung, Energiekostenexplosion, Deglobalisierung, hohe Inflation und die Zerstörung des Sozialstaates durch Milliarden-Ausgaben im In- und Ausland.
Arm ist ein Single-Haushalt mit weniger als 1.346 Euro im Monat
Deutlich mehr als die Hälfte in der unteren Einkommenshälfte fürchteten 2023, ihren Lebensstandard künftig nicht mehr halten zu können, 2020 waren es noch deutlich unter 50 Prozent. Bei der oberen Mittelschicht stieg dieser Anteil von 32 auf 47 Prozent an. Und: 2021 lebten demnach 17,8 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut, 11,3 Prozent sogar in strenger Armut. 2010 lagen die beiden Quoten noch bei 14,2 beziehungsweise 7,8 Prozent. Armut wird dabei so definiert: weniger als 60 Prozent des Median-Nettoeinkommens von 2.244 Euro pro Monat – also weniger als 1.346 Euro für einen Single-Haushalt. Prekär heißt: 80 Prozent vom Median – also 1.795 Euro.
Im „Sozialbericht 2024“ (JF 49/24) wird die Armutsrisikoschwelle etwas niedriger definiert: für Singles sind es 1.200 Euro netto im Monat, für Paare mit Kind 2.160 Euro. Interessant ist, daß Armut nicht nur ein „Ausländerphänomen“ ist: 58,1 Prozent sind Deutsche und Eingebürgerte der zweiten Generation, 41,9 Prozent Bürger mit Migrationshintergrund. Auch die Armutsquote im Osten der Bundesrepublik übertrifft mit 19,4 Prozent den Bundesdurchschnitt um mehr als vier Prozentpunkte. Ursachen dafür seien laut Philip Wotschack vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) das weiterhin geringere Lohnniveau, das einen Vermögensaufbau erschwere, und die schleichende Entvölkerung, die nur geringe Wertsteigerungen auf dem Immobilienmarkt gestatte. Und wenn im Zuge der Energiewende Tausende gut bezahlter Arbeitsplätze in den Kohlerevieren und Kraftwerken ersatzlos entfallen, wird es noch schlimmer. Schon jetzt ist fast jeder vierte im Alter zwischen 60 und 79 Jahren in den Ostbundesländern von Armut bedroht.
Die Gruppe der Armen sei nicht nur seit 2010 größer geworden, sondern im „Verhältnis zur gesellschaftlichen Mitte noch ärmer geworden“, heißt es im WSI-Verteilungsbericht. Für Arme stünden „unmittelbare materielle Mangellagen im Vordergrund, und ein Teil von ihnen wendet sich relativ deutlich vom politischen System ab“.
Kein Wunder, daß weniger als die Hälfte der Armen und der mit prekärem Einkommen findet, die Demokratie in Deutschland funktioniere im Großen und Ganzen ganz gut. Laut WSI-Bericht sehen diese „für sich auch nicht die Möglichkeit, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen“. Rund ein Fünftel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße. Der Aussage, es sei „alles so in Unordnung geraten, daß man manchmal nicht mehr weiß, wo man steht“, stimmen in der unteren Einkommenshälfte 53 Prozent zu, in der oberen Mittelschicht 37. Eine große Entfremdung vom politischen Geschehen drückt sich in der Zuschreibung aus, „die regierenden Parteien betrügen das Volk“.
Unter den Menschen in Armut und mit prekären Einkommen halten laut Studie über ein Drittel diese Aussage für zutreffend, während es bei der oberen Mitte etwas mehr als ein Viertel ist. Unter den Armen erklären knapp 20 Prozent, bei der nächsten Bundestagswahl nicht wählen gehen zu wollen. Aufatmen dürften die etablierten Parteien bei dieser Erkenntnis der WSI-Studie: Es sei schwer, „Menschen in Armut oder prekären Lebenslagen zu mobilisieren, wenn es darum geht, ihre Situation im Rahmen demokratischer Prozesse zu verbessern“.
Armut prägt auch den Alltag und führt zu Ausgrenzung. Schon 2021, also vor dem Beginn der Inflationswelle, hatten 42,8 Prozent der Armen und 21,3 Prozent der Menschen in der Gruppe mit „prekären“ Einkommen etwas oberhalb der Armutsgrenze keinerlei finanzielle Rücklagen, um kurzfristige finanzielle Notlagen zu überbrücken, heißt es in der Studie. Rund zehn Prozent der Armen waren zudem finanziell nicht in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen.
Knapp 17 Prozent der Armen können sich Freizeitaktivitäten wie einen Kinobesuch einmal pro Monat oder den Besuch einer Sportveranstaltung nicht leisten, knapp 14 Prozent fehlt das Geld, um wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen einzuladen. Zwischen 2020 und 2023 hätten sich Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage bei vielen Menschen noch einmal deutlich verschärft.
Auf den letzten Plätzen der Realeinkommensskala befinden sich laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) die Brennpunktstädte Duisburg, Gelsenkirchen und Offenbach (19.022 Euro pro Einwohner). Hier kommen niedrigen Nominaleinkommen mit überdurchschnittlich hohen Lebenskosten zusammen. Während die teuerste Stadt München (24,4 Prozent über dem Durchschnitt) ist, leben die Menschen im Vogtlandkreis am billigsten, 9,6 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt.
„Oben-Unten-Konflikte in Innen-Außen-Konflikte umgedeutet“
Was ist zu tun? „Es ist entscheidend, das Teilhabeversprechen glaubhaft zu erneuern, das konstitutiv ist für eine demokratische, soziale Marktwirtschaft“, sagt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. Die Politik sollte bewährte Institutionen wieder stärken, die leider erodiert sind: „Dazu zählen Tarifverträge, eine auskömmliche gesetzliche Rente und eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur, von funktionierenden Verkehrswegen und modernen Energienetzen bis zum Bildungs- und dem Gesundheitssystem.“
Zur Finanzierung dringend notwendiger Investitionen beitragen würde neben einer Reform der Schuldenbremse auch eine wirksamere Besteuerung sehr großer Vermögen, die zudem der gewachsenen wirtschaftlichen Ungleichheit entgegenwirken könne, so Kohlrausch. „Ungleichheit ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen“, sagte Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Böckler-Stiftung zur Eröffnung des WSI-Herbstforums: „Die Verteilungsfrage, untermauert von Empirie, gehört in den Mittelpunkt der politischen Debatte.“
Wenn soziale Infrastruktur und Tarifbindung erodierten, komme es jetzt auf die Solidarität jener, denen es noch einigermaßen gut geht, mit den Prekären und Armen an, bot Olaf Groh-Samberg von der Uni Bremen, einem Standort des 2020 gegründeten Forschungszentrums Gesellschaftlicher Zusammenhalt, als eine mögliche Lösung an: „Es geht um einen Zusammenhalt im Sinne von Klassenkoalitionen, wie wir sie bisher nicht kannten.“ Kohlrausch ist aber skeptisch: Die Machtverhältnisse sähen momentan eher so aus, daß sie zu einer Verstärkung von Ungleichheit führen, da „Oben-Unten-Konflikte erfolgreich in Innen-Außen-Konflikte umgedeutet“ würden. Sprich: Viele Einheimische finden, daß nicht die deutschen „Reichen“, sondern die teure Masseneinwanderung sie arm macht. Auch die politisch induzierte Inflation wird im WSI-Bericht nicht thematisiert – und die betrifft auch die „Obere Mitte“ mit Nettoeinkommen von 2.244 bis zu 3.366 Euro.
WSI-Verteilungsbericht 2024 „Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme, verunsicherte Mitte“: wsi.de/de/wsi-verteilungsberichte-30036.htm