© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/24 / 06. Dezember 2024

Der Bürgerkrieg kehrt zurück
Syrien: Islamisten erobern Aleppo / Ziel ist der Sturz von Präsident Assad
Marc Zöllner

Mit dieser erschreckend hohen Fluchtdynamik hatte wohl niemand gerechnet: Eine Kolonne von Hunderten Autos wälzte sich seit der Nacht zum Montag die staubigen Straßen nördlich der syrischen Millionenmetropole Aleppo entlang. Aufgrund von Straßensperren bildeten sich oftmals kilometerlange Staus, wodurch Zehntausende der vorbeifahrenden Flüchtlinge, so Beobachter vor Ort, bei drei Grad Nachtkälte am Straßenrand ausharren mußten, darunter viele Frauen und Kinder. Aus Tall Rifaat und den Siedlungen an der Grenze zu Afrin waren die mehrheitlich kurdischen Syrer geflohen, um der Bodenoffensive der Rebellen aus der Provinz Idlib zu entkommen.

Letztere hatten Ende vergangener Woche in einem nahezu lehrbuchreifen Sturmangriff die befestigten Stellungen der regimetreuen Syrisch-Arabischen Armee (SAA) rund um die von den Rebellen gehaltene Provinz Idlib quasi über Nacht überrannt. 

Moskau und Teheran versichern Assad ihre Unterstützung

Am 1. Dezember fiel mit Aleppo selbst die zweitgrößte Stadt Syriens beinahe kampflos in ihre Hände. „Rebellenverbände fuhren wie auf einer Parade bis ins Stadtzentrum ein“, berichtete der deutschrussische Militärblogger Nikita Gerassimow. Fluchtartig und beinahe in Selbstauflösung begriffen, mußte nicht nur die SAA den Rückzug ins Hinterland antreten. Auch anwesende russische Soldaten sowie die schiitische Hisbollah-Miliz hatten ihre Stützpunkte nahe der Idlib-Provinz zu evakuieren und den Rebellen unzähliges militärisches Material zu hinterlassen, darunter Kampfpanzer, Helikopter sowie Luftabwehrgeschosse. 

Unübersichtlich bleibt weiterhin, wer hier tatsächlich auf dem Vormarsch ist. Als federführend in der Offensive bekennt sich zumindest die Hai‘at Tahrir asch-Scham (HTS), eine islamistische Gruppierung mit Wurzeln in der syrischen al-Nusra-Front, die wiederum eine Abspaltung der Terrorgruppe al-Qaida darstellt. Aus dem Norden stieß gleichzeitig mit der HTS die ebenfalls türkisch unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) auf Aleppo vor, von Osten her die kurdischen Demokratischen Kräfte Syriens (SDF). Zeitweise wurden Gefechte der drei Fraktionen um die Kontrolle der kurdisch dominierten Stadtviertel Aleppos vermeldet.

Nicht bestätigt werden konnte bisher die Teilnahme von Anhängern der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) an der Offensive, obgleich vereinzelt auch Aufnäher des IS auf Jacken der Rebellen gesichtet wurden. Der IS steht eigentlich im tiefen Rivalenverhältnis zu al-Qaida. Beide lieferten sich in der Vergangenheit blutige Machtkämpfe nicht nur in Syrien, sondern ebenso in Afghanistan, im Jemen und in der Sahelzone. Eine neuerliche Zusammenarbeit des IS mit der HTS hätte für Syrien nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des IS-Kalifats äußerst fatale Folgen.

Auch die Gerüchte um einen Putschversuch in Damaskus gegen Baschar al-Assad konnten nach vergangenem Wochenende nicht bestätigt werden. Der syrische Machthaber, der am 30. November von einer Moskaureise heimkehrte, empfing hingegen am Sonntag den iranischen Außenminister in Damaskus und führte im Anschluß Krisentelefonate mit seinen Amtskollegen in Jordanien, Ägypten und dem Irak. Wie schon der Iran, versicherten auch letztere beide Staaten Assad ihre Unterstützung gegen den Vormarsch der HTS. Noch in der Nacht zum Montag überquerten mehrere tausend Milizonäre der schiitisch-irakischen Volksmobilmachungskräfte (PMF) die Grenze zu Syrien, um sich der SAA anzuschließen.

Berichtet wurde in der Folge über mehrere gezielte US-amerikanische Luftangriffe auf die Konvois im Osten Syriens – zeitgleich zu russischen Luftangriffen auf die Städte Idlib und Aleppo. Bereits am Samstag hatten sich Moskaus und Ankaras Außenministerien telefonisch über ihre „ernste Besorgnis über die gefährliche Entwicklung der Situation in Syrien“ sowie über die Koordinierung „gemeinsamer Aktionen zur Stabilisierung der Lage“ verständigt, so Rußlands Außenminister Sergej Lawrow.

In einer gemeinsamen Erklärung riefen die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland die Konfliktparteien zur „Deeskalation sowie zum Schutz von Zivilisten und Infrastruktur“ auf und mahnten ob der Dringlichkeit zur Umsetzung der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats. Im Dezember 2015 erlassen, sah diese einen Waffenstillstand für Syrien – allerdings unter Ausschluß islamistischer Kräfte – sowie Neuwahlen und einen demokratischen Übergang in Syrien vor. Mit der Offensive der HTS sowie dem Eingreifen irakischer Milizen in den syrischen Bürgerkrieg scheint die gewünschte Erfüllung dieser UN-Resolution jedoch in weitere Ferne denn je gerückt.