Das ist ja sogar besser als im Kino“, sind sich meine Kinder einig. Wir sind zu Gast in der Musikalischen Komödie Leipzig. Das äußerst beliebte und von den Bürgern der Stadt umgangssprachlich als „MuKo“ bezeichnete Theater für Operetten und Musicals ist neben dem Opernhaus am Augustusplatz die zweite Spielstätte der „Oper Leipzig“.
Es wird „Gräfin Mariza“ von Emmerich Kálmán gespielt. Die Uraufführung dieses recht bekannten Stückes erfolgte 1924 in Wien. Der Anlaß für den heutigen Abend ist jedoch nicht in dem hundertjährigen Jubiläum zu sehen, sondern hauptsächlich unserem aktuellen Besucher aus Übersee geschuldet. Mein Großcousin Jörg hatte sich für ein paar Tage angekündigt. Er lebt seit vielen Jahren in den USA und ist ein absoluter Kunst- und Kulturfan. Und so fiel die Wahl neben einigen Ausflügen auch auf die Operette.
Es ist gerade Pause. Wir stehen auf der Terrasse und unterhalten uns sehr angeregt. „Einfach phantastisch“, stellt Jörg zufrieden fest. Auch ich bin angetan und denke darüber nach, wie es wohl vor ein paar Jahrzehnten gewesen sein könnte, so ganz ohne Fernseher und Handy: Vielleicht ist die Kultur ja doch so viel mehr als nur eine sympathische Nische der Gesellschaft? Ein lauter Gong gibt uns zu verstehen, daß es in wenigen Minuten weitergeht. Wir kehren in den Saal zurück.
Ausgerechnet im beliebtesten Lied wird aus dem geigenden Zigeuner einfach nur ein „Freund“.
Bei der anschließenden Heimfahrt gibt es nur ein Thema. „Ganz klar Lisa!“, teilt meine Tochter lautstark auf die Frage hin mit, welche Rolle ihr am besten gefallen hat. Kaum sind wir zu Hause angekommen, wird sogar noch das Bühnenbild gemalt. Meine Frau lächelt: „Also nach einem Kinobesuch ist so eine Euphorie eher selten.“
„Habt ihr es bemerkt?“, will unser Besucher später wissen. Wir schauen ihn fragend an. „Scheinbar ist Political Correctness auch bei euch nicht mehr wegzudenken.“ Er erklärt, daß das Lied „Komm, Zigan“, welches immerhin das bekannteste Musikstück der Operette ist, der PC zum Opfer gefallen sei: „Und so wurde aus dem Geige spielenden Zigeuner schlicht und einfach nur ein ‘Freund’.“
„Nicht einmal die Kultur ist vor sprachlichen Verunstaltungen sicher!“, mache ich mir Luft. Jörg beruhigt mich: „Die Sprache der Wahrheit ist einfach. Genau darum solltest du dir die kleinen Freuden des Alltags auch von niemandem nehmen lassen.“
Jenseits aller Moral gibt es die Realität, und in der hat man zu leben.
Harry Thürk,Schriftsteller(1927–2005)