© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/24 / 29. November 2024

Frisch gepresst

Deutsche Mandarine. Als Exponent der „Neuen Ontologie“ zählt der aus dem baltischen Deutschtum stammende Philosoph Nicolai Hartmann (1882–1950) neben Edmund Husserl, Max Scheler, Ernst Cassirer  und Martin Heidegger zu den prägenden Denkern der Zwischenkriegszeit. Daß seine Wirkung infolge der Konjunktur angelsächsischer Sprachphilosophie und aus der Emigration zurückgekehrter deutscher Sozialphilosophie („Frankfurter Schule“) in den 1950ern an Resonanz verlor, erklärt, warum die Hartmann-Forschung stagnierte und Quellen aus dem Nachlaß daher spärlicher sprudelten. Auf diesen Mißstand reagiert nun die Edition einer nach Umfang und Intensität unter den Gelehrtenbriefwechseln ihrer Epoche nahezu einzigartigen Korrespondenz, die Hartmann mit dem Philosophiehistoriker Heinz Heimsoeth (1886–1975) über Jahrzehnte hinweg führte. Sie vermittelt ein umfassenderes und komplexeres Bild von der deutschen Universitätsphilosophie als das bisher im fachlichen und öffentlichen Diskurs vorherrschende, das sich auf wenige prominente Ordinarien wie Heidegger und einige akademische Außenseiter wie Walter Benjamin beschränkt. Fast 3.000 Anmerkungen zu den 714 Briefen betten den epischen Gedankenaustausch in den zeithistorischen Kontext der deutschen Philosophie im Zeitalter der Extreme ein. Die Edition spiegelt zugleich am Beispiel zweier typischer „Mandarine“ die fatale „bürgerlich deutsche Selbsttäuschung“ wider, „man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein – diesen Wahn, der Deutschlands Elend verschuldet hat“ (Thomas Mann). (ob)

Christian Tilitzki (Hrsg:): Nicolai Hartmann – Heinz Heimsoeth. Briefwechsel 1921–1950. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2024, gebunden, 1.263 Seiten, Abbildungen, 199,90 Euro




Arbeiterbewegung. Soziale Bewegungen stecken auch wegen der Leute in der Krise, die ihre Geschichte schreiben. So wie jene des Soziologen Marcel van der Linden mit seiner Darstellung der „klassischen ArbeiterInnenbewegungen“, in der er nacheinander Anarchismus, Syndikalismus, Sozialdemokratie, Realsozialismus und moderne Gewerkschaften abhandelt. Das ist um so seltsamer, als er als Koryphäe gilt. Was an diesen Strömungen klassisch ist und wo Austromarxismus, Gramscianismus oder Rätekommunismus bleiben – unklar. Gleichzeitig skaliert der am Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam arbeitende van der Linden seine Überlegungen zu „zahllosen Bemühungen um Selbstorganisation und politische Artikulation der Arbeiterbewegung“, die er in „Revolutionen in Haiti, Rußland und Bolivien“ und den Aufstieg mächtiger Arbeiterorganisationen „in Ostasien und im westlichen Pazifik“ beobachten will. Durchdacht klingen diese Analysen eher nicht. (fw) 

Marcel van der Linden: „... erkämpft das Menschenrecht“. Vom Aufstieg und Niedergang klassischer ArbeiterInnenbewegungen. Promedia-Verlag, Wien 2024, broschiert, 216 Seiten, 25 Euro