© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/24 / 29. November 2024

Die Stasi und ihre willigen Helfer der RAF
Vor 35 Jahren wurde Alfred Herrhausen von linksextremen Terroristen ermordet / Ein „taz“-Redakteur erinnert sich
Ulli Kulke

Am 2. Dezember 1989 werden sich die Leser der linken Tageszeitung taz gewundert, viele davon Wutanfälle bekommen oder gar ihr Abonnement gekündigt haben. Mußten sie doch auf einer der vorderen Seiten ihres Szene-Blattes eine Todesanzeige entdecken mit diesem Text: „In tiefer Trauer um einen unersetzbaren, wundervollen Freund.“ Das Besondere dabei: Bei dem „Freund“ handelte es sich um Alfred Herrhausen, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, der drei Tage vorher, vor 35 Jahren durch eine Sprengfalle auf dem Weg zur Arbeit ermordet worden war. Er galt als Kopf des „militärisch-industriellen Komplexes“, wie die taz den Banker bisweilen voller Ablehnung tituliert hatte, den damals mächtigsten deutschen Wirtschaftsmagnaten. Auf dem Spiegel-Titel war er kurz zuvor „Der Herr des Geldes“, der personifizierte Kapitalismus. Und jetzt der „unersetzbare, wundervolle Freund“. In der taz, ausgerechnet.

Herrhausen war am 30. November jenes Jahres einer Sprengfalle zum Opfer gefallen, gebaut mutmaßlich von RAF-Terroristen, wahrscheinlich unter Mithilfe des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Dessen mörderisches Personal war auch drei Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer noch nicht kaltgestellt. Gerade jetzt, Ende 2024, kristallisiert sich für seine Mittäterschaft ein plausibles Motiv heraus, doch dazu später.

Herrhausen liebäugelte mit Nachlaß der Schulden für die Dritte Welt

Der Autor dieser Zeilen, damals taz-Journalist, war Zeuge davon, wie jene Annonce in die taz kam. Als Leiter der Wirtschaftsredaktion verfolgte ich am Morgen des 30. November gerade die einlaufenden Agenturmeldungen über den Anschlag. Noch war unklar: Ist er tot oder „nur“ schwer verletzt? Vorsorglich entwarf ich schon mal einen Nachruf auf Herrhausen, dem ich immer mal wieder begegnet war, der mir als taz-Redakteur äußerst interessante Interviews gegeben hatte. Zuletzt erst zwei Monate zuvor, im September 1989.  

Mitten in meinen Gedanken stand plötzlich eine junge Frau neben mir. Komplett in Schwarz, damals Markenzeichen des Punk-Milieus. Ein paar Augenblicke dauerte es, bis sie ihre Zurückhaltung aufgegeben hatte. Sie heiße Tanja Neumann, sagte sie zögernd, und sie wolle darum bitten, daß „ihre Zeitung“, wie sie die taz nannte, nichts Schlechtes über Herrhausen schreibe. Sie habe ihn gut gekannt, seit sieben Jahren. Sehr gut. Er sei ein guter Mensch gewesen. Ein, zwei Worte tauschten wir noch. Woher sie in dem Moment schon wußte, daß der Banker tot war, noch vor allen Agenturen, das verriet sie mir nicht. Auch nicht, was sie dann noch in der Anzeigenabteilung wollte, als sie nach dem Weg dorthin fragte. Die junge taz-Leserin war offensichtlich erschüttert. Etwas konnte ich sie trösten, jedenfalls in ihrem konkreten Anliegen. Auch unabhängig von der Gepflogenheit, in Nachrufen mit Verstorbenen pfleglich umzugehen, war ich sowieso zu keiner Abrechnung mit Herrhausen aus der „linken Ecke“ aufgelegt. Zu sehr fühlte auch ich mich betroffen. Ich mußte mir damals schon seit Jahren gestehen: Auch ich war von ihm tief beeindruckt, seit er mir das erste Mal begegnet war.

Das war in Washington 1987. Bei der alljährlichen Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, bei dem sich stets auch die großen Geschäftsbanken der Welt austauschen und zum Schaulaufen vor der Presse antreten. Als die Deutsche Bank zum Journalisten-Lunch ins Embassy-Row-Hotel gebeten hatte, war Herrhausen gerade am Vormittag aus Mexiko eingetroffen, einem jener damals so tief in der Kreide stehenden Länder Lateinamerikas. Das war das Thema in jenen Jahren: die katastrophale Verschuldung der Dritten Welt, vor allem Südamerika, von der taz stets kritisch und „solidarisch“ begleitet.

Die Ankunft Herrhausens war von Gerüchten umwoben. Man rätselte: Hatte er gerade tatsächlich angeregt, den Schuldnerländern einen Teil ihrer Außenstände zu erlassen? Die US-Banker, die von so einem Schritt weit stärker betroffen gewesen wären, schossen sich schon mal mit Vorwürfen auf ihn ein. Einer brachte die Stimmung der Wall Street auf den Punkt mit der Bemerkung, Herrhausen sei ein „innovativer Softie“.

Den letzten Gang hatten die Journalisten verspeist, zum Kaffee lauschten sie dann den Statements der beiden Co-Vorstandsvorsitzenden der „Deutschen“, Friedrich Wilhelm Christians und – Herrhausen. Unausgesprochen schälte sich heraus: Christians wollte von Herrhausens Vorstoß nichts wissen. Beide schlichen deshalb um das Thema lieber herum. Sofort danach eilte ich zu ihrem Tisch und bat Herrhausen um ein Interview. „Für die taz? Warum nicht?“, antwortete er spontan, bevor er mich ins Nebenzimmer bugsierte, vorbei an Kollegen anderer Zeitungen („der bürgerlichen“, wie wir in der taz sie alle nannten), die ihrerseits auch gern Herrhausen interviewt hätten.

Erstmal sprachen wir über ihn selbst und meine Frage: „Sind Sie nun ein innovativer Softie?“ Innovativ wollte er gelten lassen, Softie nicht. Dann legte er dar, daß er sich mit seinem Vorschlag ziemlich einsam fühlte in der Branche. Aber, sowieso, und im übrigen: Er wolle ja gar nicht wirklich auf Forderungen verzichten. Er relativierte, wollte allzu kernige Schlagzeilen vermeiden. Nach Ende des Interviews hatte er für andere Blätter „leider“ keine Zeit mehr. Er flog auch bald zurück nach Frankfurt. Herausgeschält hatte sich für mich, wie ich es dann auch in späteren Beiträgen darlegte: Herrhausen dachte sehr wohl an Teilschuldenerlasse. Freilich vor allem deshalb, weil – sollte er sich damit durchsetzen – seine Bank erheblich besser dastehen würde als die Konkurrenz in Amerika und Europa, auch der Dresdner und der Commerzbank. Hatte doch kein anderes Haus mit so starken Abschreibungen auf kritische Kredite vorgesorgt wie die „Deutsche“. Es paßte, rundum.

Der unglaubliche Briefkontakt zur linken „No-Future“-Gymnasiastin

Das Thema Drittweltverschuldung kochte weiter hoch, für die taz ganz besonders ein Jahr später, als die IWF-Herbst-Tagung in Berlin stattfand, begleitet von heftigen linken Demonstrationen, die den IWF und die Banken als das Böse schlechthin darstellten. Auch 1988 erhielt ich für die taz beim Lunch „der Deutschen“ im Ibis-Hotel am Funkturm das erste Interview. Ich war erneut beeindruckt von Herrhausen, seiner Eloquenz, seiner Überzeugungskraft. Und irgendwie trafen wir uns ja auch. Er in seinen „Kapitalverwertungsinteressen“ und seiner Strategie, die Konkurrenz auszubremsen – und ich als Wirtschaftsressortleiter: Seine Plädoyers für Teilschuldenerlasse, wohlvorbereitet durch Abschreibungen, waren im Interesse seiner Bank – und der Dritten Welt, die der taz am Herzen lag. Es war dies auch das „Narrativ“, das sich dann durch meine Kommentare in der taz zog. Zum Leidwesen ihrer „Szene“, die lieber alle Banken enteignen wollte. Und die in jenem Jahr noch aus einem ganz anderen Grund gegen meine Zeitung zu Felde zog.

Die taz hatte parallel zur Weltwährungstagung in Berlin einen gemeinsamen Kongreß mit den „Leibhaftigen“ geplant, mit IWF und Weltbank. Wir wollten mit ihnen streiten, zusammen mit Wissenschaftlern und „Solidaritätsgruppen“, über Geld, Ausbeutung und Ökologie. Meine Freundschaft mit dem Sprecher des Pariser Weltbank-Büros, Akin Fatoyinbo – dessen Chef auch seine Teilnahme zusagte – hatte die Idee konkret werden lassen. Doch es kam nicht dazu, die „Szene“ drohte Gewalt an, Gespräche mit der Weltbank – für sie ein Tabu. Alles mußte abgeblasen werden.

Von dem teilverständlichen Kurs gegenüber Herrhausen wegen seiner Teilentschuldung wollte ich als taz-Redakteur jedenfalls nicht lassen. Als Jungspund legte ich mich hierbei auch mit den Altroutiniers an, beflügelt von einer gewonnenen Wette: 1987, nach Herrhausens erstem Vorstoß in Sachen Teilschuldenerlaß, ging es um eine Flasche Schampus gegen den NDR-Redakteur. Herrhausen wird erster alleiniger Chef seiner Bank, die ewige Doppelspitze hat ein Ende, wegen seines Vorstoßes. Sagte ich. Herrhausen wird niemals alleiniger Sprecher, genau wegen seines Vorstoßes. Sagte der Kollege. Wenige Monate später war Herrhausen alleiniger Vorstandsvorsitzender. Weil der Bank-Chef seinem Haus einen Vorsprung verschafft hatte und dafür belohnt wurde, wurde auch ich belohnt, mit Champagner.

Voller Übermut machte die taz dann 1989 Herrhausen auch noch zum Bundesfinanzminister, am 1. April! Wohlbegründet und kritisch kommentiert („Stamokap jetzt amtlich“). Bonn rätselte, selbst die dpa. Es sprach für den Banker, daß viele dies glaubten. Auch weil zu Ostern sein Freund Helmut Kohl sowieso eine Kabinettsumbildung vorhatte. Erst am Abend gab Regierungssprecher Friedhelm Ost bekannt: Es war wohl nur ein Aprilscherz der taz. 

Ein halbes Jahr später war Herrhausen tot, ermordet. 1989 hatte sich das Geschäftsfeld der Deutschen Bank etwas geändert. Sie engagierte sich zunehmend im Osten. Immer wieder fuhr Herrhausen nach Moskau, auch für Kohl, stabilisierte durch staatliche wie öffentliche Kredite Gorbatschows Perestroika und Glasnost. Der SED-Nomenklatura, die sich dadurch akut gefährdet sah, wurde er so zum Todfeind. Herrhausen mußte aus dem Weg geräumt werden. Wer könnte das erledigen? Richtig, die Stasi. Und die RAF-Terroristen boten sich als willige Helfer an, ließen sich ausrüsten, sich schulen und schlugen zu. Diese Lesart legt, wenn auch indirekt, der sehenswerte Spielfilm „Herrhausen – Herr des Geldes“ nahe, der jetzt im Oktober zusammen mit einer Dokumentation in der ARD lief, als plausible Erklärung für den unaufgeklärten Mordfall.

Mein journalistischer Umgang mit dem Thema Geld und Banken mußte nach dem Mord ohne den markantesten Protagonisten weiterlaufen. Der Name blieb dennoch präsent. Und deshalb in den späteren Jahren auch die Frage: Was war das damals eigentlich mit der jungen Frau und der Todesanzeige? Es ließ mir keine Ruhe. Aber wie an sie rankommen? Eine passende Tanja Neumann war nicht zu finden. Hatte sie den Namen geändert, geheiratet? 2004, zum 15. Jahrestag des Attentats, wollte ich es wissen. Inzwischen war ich Redakteur bei der Zeitung Die Welt. Ich forschte und fand eine Tanja Langer. Sie war es. Sie hatte mit dem Fall abgeschlossen. Aber dann, als ich sie besuchte, erzählte sie mir doch noch ihre unglaubliche Geschichte.

1982, mit 19 Jahren, war sie als linke Gymnasiastin und Vertreterin der „No-Future-Generation“ zu einer ZDF-Talkrunde eingeladen gewesen. Ihr gegenüber saß Herrhausen. Beim anschließenden Buffet kam man ins Gespräch, stritt sich weiter. Schließlich er: Schreiben Sie mir doch mal. Sie: Ich kriege doch sowieso keine Antwort. Er: Machen Sie es. Sie tat es. Und bekam keinen Brief zur Antwort, sondern umgehend einen persönlichen Anruf. Den ersten von mehreren hundert über die folgenden sieben Jahre. Auch sie rief an, wurde stets von der Sekretärin durchgestellt, wenn es paßte, auch von der Ehefrau bei Herrhausen daheim. Man sprach über Politik, Banken, Geld, Philosophie. Sie blieb die Linke, wollte wissen, warum nicht alle dasselbe verdienen könnten und gestand ihm, daß sie am Abend nach dem Mauerfall Kohl, Genscher und Brandt vor dem Rathaus Schöneberg ausgebuht habe. Fragte aber auch mal, warum er nicht Bundeskanzler werden wolle. Er: „Ach Tanjuschka“. Sie erinnert sich: Er wollte eigentlich „gar nichts groß erzählen“, lieber zuhören. „Ich war sowas wie eine geistige Tankstelle für ihn.“ Unzählige Briefe, Telefongespräche, auch Besuche folgten. Er riet ihr, Schriftstellerin zu werden. Das wurde sie später auch. Mit Erfolg. Dutzende Bücher, Hörspiele und Theaterstücke stammen aus ihrer Feder. Als ich sie wieder an ihre Geschichte mit Herrhausen erinnert und über all das eine längere Welt-Reportage veröffentlicht hatte, da fand sie ihr neues Thema. Und verarbeitete ihre beispiellose Beziehung zu dem Ausnahmebanker im Roman „Der Tag ist hell, ich schreibe dir“ (Langen-Müller, 2012).


Ulli Kulke, geboren 1952, war seit 1979 mit Unterbrechung bis 1990 Wirtschaftsredakteur bei der taz in Berlin, danach schrieb er für natur, Wochenpost, mare und zuletzt die Welt.



Foto: Tödliches Attentat auf Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen, Bad Homburg am 30. November 1989: Todfeind der SED-Nomenklatura