Dieser unscheinbare, immer verdrießlich schauende kleine Mann mit der Rö-mernase, den schmalen Lippen und den stechenden Augen, die aus einem Kindergesicht hervorblitzten, das – wie Spötter sagten – noch nie die Schärfe eines Rasiermessers gespürt hatte, war der geschichtsmächtigste Politiker seiner Zeit. Mit seiner Geheimpolitik stellte Edward Grey (1862–1933) nach der Jahrhundertwende die Weichen für die kommenden Jahrzehnte. Gestützt auf das Wohlwollen seiner beiden intimen Freunde – der eine: der von 1908 bis 1916 amtierende britische Premierminister Herbert Henry Asquith, der andere: Kriegsminister Richard Haldane – düpierte er nicht nur die übrigen Kabinettskollegen. Er führte auch die Öffentlichkeit mit Falsch- und Fehlinformationen hinters Licht, bis es zu spät war, bis seine eigenmächtigen Zusagen, die er hinter dem Rücken der Regierung den Franzosen gegeben hatte, ihr keine andere Wahl mehr ließen als den Kriegseintritt im August 1914.
Die Plattform seines Wirkens war das Außenministerium, das er über knapp elf Jahre hinweg bekleidete, während sich im selben Zeitraum in Entente-Bündnispartnerland Frankreich 15 verschiedene Kollegen die Klinke in die Hand gaben. Dabei war der wenig weltgewandte Adelige denkbar ungeeignet für die Außenpolitik. Persönlich verschlossen und unnahbar, beherrschte er nicht eine Fremdsprache. Er mied die Gesellschaft von Diplomaten und Gesprächszirkel, er kannte kein einziges anderes Land aus eigener Anschauung. Sein Arbeitszimmer empfand er dennoch als einen Kerker, dem er so oft es ging zu entfliehen trachtete.
In die Politik war dieser seltsame Mensch aus einer seit einigen Generation den niederen Adelstitel Baronet führenden Familie, der als Ältester von sechs Geschwistern mit zwölf Jahren seinen Vater verloren hatte, durch Zufall gekommen. Mit 26 war ihm ein Parlamentssitz förmlich aufgedrängt worden, nachdem er seine Studienjahre in Oxford regelrecht verbummelt hatte. Den Großteil seiner Zeit hatte er darauf verwendet, Tennis zu spielen, was ihm 1883 den Titel Oxford-Champion eintrug und kurz darauf fünfmal den Pokal als British Champion. Vom Dekan wegen Faulheit und Pflichtvergessenheit relegiert, hatte er sich zu Hause auf sein Examen in Jura vorbereitet, das er mit einer Note 3 mehr schlecht als recht bestand.
Dieser einsiedlerische Einzelgänger, der keine Anstalten machte, sich fortzupflanzen, liebte die Tiere und die Natur weit mehr als die Menschen. Gemeinsam mit seiner Frau Dorothy, an der er abgöttisch hing und die er nach zwanzigjähriger Ehe 1905 durch einen tragischen Unfall verlor, verließ er jeden Samstagmorgen um halb 6 Uhr früh seine Stadtwohnung in London, nahm den Zug und frühstückte zwei Stunden später in seinem Landhäuschen. Dort, unweit seiner alten Internatsschule, am Ufer eines forellenreichen Flüßchens, zwischen Weidensträuchern, Röhricht und Steinquadern, hatte er sich aus Ziegeln und Holz sein „irdisches Paradies“ errichten lassen. Es war, einem verwunschenen Schloß gleich, von Rosen überwuchert. Hausangestellte gab es nicht, und nichts und niemand durfte ihn dort stören. Für ihn war der Ort „etwas Besonderes und Heiliges, außerhalb des normalen Lebenslaufes“. Stundenlang saß er im Garten, beobachtete die Vögel und frönte dem Fliegenfischen, seiner großen Leidenschaft. „Meine Eichhörnchen kommen an meinen Schreibtisch und nehmen mir Nüsse aus der Hand, als ob ich nie fortgewesen wäre“, so schrieb er nieder. „Es ist etwas Beruhigendes in der Unbewußtheit von Tieren – unbewußt all der Dinge, die uns so wichtig sind und ihnen überhaupt nicht.“
Lügen als eines der wichtigsten diplomatischen Instrumente
Vielleicht hätte er, wie einer seiner Mitarbeiter klagte, „weniger Zeit mit seinen Enten verbringen und lieber Französisch lernen sollen“. Aber das verkannte sein Talent zur Konspiration, zur Täuschung und Intrige vollkommen. Zusammen mit seinen beiden Freunden, der Troika, heckte er in seiner Anglerhütte ein Komplott aus, um den Parteiführer der Liberalen, Henry Campbell-Bannerman, aus dem Weg zu räumen und sich selbst auf zentrale Posten im Kabinett zu hieven. Und die Lüge war eines seiner wichtigsten diplomatischen Instrumente. Zwei Jahre vor dem Krieg führte er das Parlament vorsätzlich in die Irre, als er fest-stellte: „Wir haben nicht einen einzigen geheimen Artikel, welcher Art auch immer, vereinbart, seit wir ins Amt gelangt sind“. Dabei war die Tinte auf dem Beistandspakt mit Paris, in dem er die Entsendung eines Expeditionskorps im Umfang von fast einer Million Mann versprach, noch nicht trocken. Und sechs Wochen vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs belog er das Parlament und den deutschen Botschafter, als er wahrheitswidrig dementierte, sich mit Rußland in Militärverhandlungen zu befinden.
Er und die germanophoben Gestalten, mit denen er sich umgab, schirmten alle Entscheidungen, die durchweg gegen Deutschland gerichtet waren, strikt und sorgfältig vor jedweden neugierigen Blicken ab. In Greys Foreign Office dominierte eine dezidiert antideutsche Fraktion, die für diese Zwecke sogar ein Bündnis mit dem autokratisch regierten Rußland in Kauf nahm. Diese Geheimpolitik ließ die Öffentlichkeit, das Parlament und das Kabinett im irrigen Glauben, daß man, wenn es hart auf hart ging, noch die Freiheit der Aktion besaß. Tatsächlich hatte er hinter den Kulissen längst die Weichen in den großen Krieg gestellt. Diesen freilich mußte er wegen eines Augenleidens, das ihn bald erblinden ließ, nicht mehr mit ansehen. Doppelsinnig war daher sein berühmter Ausspruch, als die Glocken von Big Ben um Mitternacht am 4. August 1914 verkündeten, daß das britische Ultimatum an Deutschland ergebnislos abgelaufen war: „Die Lichter gehen in ganz Europa aus, wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.“
Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.