© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/24 / 29. November 2024

Melodien, die das Herz berühren
Seelenglück: Vor hundert Jahren starb der italienische Komponist Giacomo Puccini. Ihm verdankt die Opernwelt einige der meistgespielten Werke
Kerstin Rech

In der folgenden Geschichte ist der Ehefrau die Rolle der Megäre zugedacht, einer Rachegöttin. Dann gibt es noch das arme Dienstmädchen und den strahlenden Helden. Ort der Handlung ist eine luxuriöse Villa in der Toskana am Lago Massaciuccoli bei Viareggio.

Das Hausmädchen Doria Manfredi ist verzweifelt. Die Padrona Elvira beschuldigt sie, ein Verhältnis mit ihrem Mann, dem Padrone, zu haben. Das arme Mädchen erträgt die Verleumdungen und Anschuldigungen nicht mehr. Sie wählt den Freitod und trinkt Gift. Sie wird nur 23 Jahre alt.

Nein, auch wenn es sich so liest, das ist keine Inhaltsangabe einer Puccini-Oper. Diese tragische Geschichte spielt sich tatsächlich im Hause Puccinis ab – im Jahr 1909. Es ist kein Geheimnis, daß der Lebemann und erfolgreiche Schöpfer unvergessener Frauengestalten dem weiblichen Geschlecht, trotz Ehegelübde, sehr zugeneigt und Affären nicht abgeneigt ist – jedoch nicht im Falle der armen Doria. Eine Liebesbeziehung hat er vielmehr mit ihrer Cousine.

Dorias Verwandte wollen die Sache nicht vertuscht wissen, schalten Anwälte ein und es kommt zum Prozeß gegen Elvira Puccini wegen übler Nachrede, den die stets nach pikanten Details lechzende Öffentlichkeit mit Begierde verfolgt. Auch eine Obduktion der Leiche wird durchgeführt – und zweifellos starb Doria Manfredi als Jungfrau. Elvira wird zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, aber Giacomo einigt sich mit der Familie, und gegen eine sicher nicht unerhebliche Zahlung bleibt seiner Frau die Schmach eines Gefängnisaufenthaltes erspart.

Einundfünfzig Jahre zurück, man schreibt das Jahr 1858. Genau zwei Tage vor Heiligabend wird jener Giacomo Puccini, der heute und auch schon zu seinen Lebzeiten einer der meistgespielten Opernkomponisten ist, im toskanischen Lucca als fünftes von acht Kindern geboren. Er hat sechs Schwestern und einen Bruder. Die Puccinis sind eine Musiker- und Komponistenfamilie, deren Anfänge Generationen zurückliegt. Geht man an der Stammlinie der Puccinis einige Schritte zurück, so stößt man gleichfalls auf einen Giacomo Puccini (1712–1781), Ururgroßvater des späteren Maestros und Komponist sowie Organist in der Kathedrale San Martino in Lucca. Er gibt die Fackel weiter an seinen Sohn Antonio (1747–1832), der nach dem Tod des Vaters selbstredend die Stelle des Organisten übernimmt. Ihm folgt Domenico (1772–1815), ebenfalls Komponist und Organist und dann Michele (1813–1864). Er ist Leiter der Stadtkapelle von Lucca und spielt wie seine Vorfahren in der Kathedrale San Martino die Orgel. Auch von ihm sind Kompositionen überliefert. Nach seinem Tod, der kleine Giacomo ist erst sechs Jahre alt, übernimmt Onkel Magi das Amt des Organisten, soll dieses jedoch an Giacomo übergeben, sobald der Junge in seiner musikalischen Entwicklung soweit ist. Von seiner Mutter Albina gefördert, nimmt Giacomo Musikunterricht.

Legendär ist seine erste Berührung mit der Oper. Zusammen mit Freunden unternimmt er einen siebenstündigen Fußmarsch von Lucca nach Pisa, um Verdis „Aida“ zu sehen. Dieses Erlebnis kommentiert er später mit den Worten: „Als ich Aida in Pisa hörte, fühlte ich, daß sich ein musikalisches Fenster für mich geöffnet hatte.“  

Er ist 22 Jahre alt, als er dank eines Stipendiums des Königshauses in Mailand sein Studium beginnen kann. Puccini gilt als fauler Schüler, der schlecht Klavier spielt und nicht dirigieren kann. Jedoch was das Komponieren betrifft, läßt sich schon bald sein großes Talent erkennen. Puccini ist als Opernkomponist bekannt, seine Abschlußarbeit an der Mailänder Akademie ist jedoch, ganz der Familientradition geschuldet, ein kirchliches Werk, die „Messa di Gloria“. Teile daraus finden sich in seinen späteren Opern wieder. Das Kyrie erscheint als ein aus der Kirche tönendes Orgelstück im ersten Akt von „Edgar“. Das „Agnus Dei“ findet sich im zweiten Akt von „Manon Lescaut“ wieder.

Zu jener Zeit gibt es in Italien zwei große Opernverlage – Ricordi und Sonzogno. Letzterer veranstaltet 1883 einen Wettbewerb, an dem auch Puccini mit seiner Oper „Le Villi“ erfolglos teilnimmt. Doch ganz vergebens ist seine Teilnahme nicht, denn das Konkurrenzhaus Ricordi begutachtet die eingereichten Arbeiten genau und entdeckt Giacomo Puccini. Puccini wird diesem Verlagshaus mit all seinen Opern treu bleiben. Lediglich „La Rondine“ (Die Schwalbe) verlegt er anderweitig.

Der Juniorchef des Verlagshauses Giulio Ricordi kann zu diesem Zeitpunkt nur erahnen, welch großes Talent er unter seine Fittiche genommen hat. Der vierundvierzigjährige Ricordi, der auch ein wenig die Vaterstelle bei Puccini einnimmt, ist musikalisch hochgebildet, immer offen für Neues und denkt an die Zukunft. Er weiß, daß die Lichtgestalt Giuseppe Verdi, der ebenfalls bei ihm unter Vertrag steht, bereits über siebzig und ein Nachfolger für ihn noch nicht in Sicht ist. Außerdem gewinnt Richard Wagners Musik immer mehr Anhänger im Land des Belcanto. Könnte Giacomo Puccini die Rolle des alternden Verdi übernehmen? Giulio Ricordi ist davon überzeugt und erteilt dem jungen Komponisten nicht nur den Auftrag für eine neue Oper, sondern unterstützt ihn auch mit einem monatlichen Salär von 200 Lire.

In jenen Jahren lernt Puccini auch die eingangs erwähnte Elvira kennen, die ihren Mann für ihn verläßt. 1886 bringt Elvira Antonio das einzige Kind des Paares zur Welt. Den Bund fürs Leben schließen die beiden erst 1904, als Elvira Witwe wird. In diesem Jahr laboriert Puccini, der leidenschaftlich gern Auto fährt, noch an einem Autounfall im Jahr zuvor, bei dem er sich ein Bein bricht.

„Le Villi“, Puccinis erste Oper und Wettbewerbsbeitrag, wird als Einakter am 31. Mai 1884 am Teatro dal Verme in Mailand uraufgeführt. Puccini erweitert die Oper auf zwei Akte und bringt sie im Dezember desselben Jahres im Teatro Regio in Turin erneut auf die Bühne.

Die Geschichte ist im Schwarzwald verortet. Da sie den meisten sicher nicht so bekannt ist, bietet sich eine kurze Inhaltsangabe an: Anna feiert im Haus ihres Vaters Verlobung mit Roberto. Diese muß jedoch bald nach Mainz reisen. In der Stadt am Rhein verfällt er einer Verführerin. Anna stirbt vor Gram. Ihre gepeinigte Seele vereinigt sich mit den Willis, den Seelen toter Frauen, die ein ähnliches Schicksal wie Anna erleiden mußten. Roberto kehrt eines Tages reuevoll zurück und wird von den Willis in einem wilden Reigen zu Tode getanzt.

Die zweite Oper, „Edgar“, in der ein Ritter sich zwischen der lasterhaften Tigrana und der tugendhaften Fidelia entscheiden muß, spielt 1302 in Flandern und wird 1889 als Vierakter an der Mailänder Scala uraufgeführt. Puccini schreibt sie um, und drei Jahre später wird sie als Dreiakter am Teatro Comunale in Ferrara erneut uraufgeführt. Ist „Le Villi“ zumindest ein Achtungserfolg beschert, so stößt „Edgar“ auf wenig Begeisterung.

Dann kommt „Manon Lescaut“. Sein Verleger lehnt die Oper zuerst ab, da es schon ein Werk gleichen Namens und Inhalts von dem Komponisten Jules Massenet gibt und das sehr erfolgreich gespielt wird. Puccini setzt sich durch. Im Teatro Regio in Turin findet am 1. Februar 1893 die Uraufführung von „Manon Lescaut“ statt. Er übertrumpft Massenet und schafft seinen großen Durchbruch. Puccinis selbstbewußter Kommentar zu den beiden „Manons“ ist wie folgt überliefert: „Massenet hat Puderquaste und Menuett geschrieben, ich hingegen Leidenschaft und Verzweiflung.“ „Manon Lescaut“ macht Puccini nicht nur in Italien bekannt. Selbst in den USA und Südamerika wird die Oper mit großem Erfolg aufgeführt. Fortan ist Giacomo Puccini ein Star der Opernwelt.

1896 findet im Teatro Regio die Uraufführung von „La Bohème“ unter Leitung von Arturo Toscanini statt. Auch diese Oper mit der tragischen Geschichte um den Poeten Rodolfo und die Midinette Mimi – „O soave fanciulla“ – wird ein Welterfolg, selbst wenn die Kritiker sie zuerst ablehnen. Ein Jahr nach der Uraufführung wird „La Bohème“ auch in Livorno aufgeführt, wo ein gewisser Enrico Caruso den Rodolfo singt.

Interessant bei der Entstehung von „La Bohème“ ist das Wettrennen zwischen Puccini und Ruggero Leoncavallo. Leoncavallo schreibt ursprünglich für seinen Freund, und in Mailand zeitweiligen Zimmernachbarn, Puccini das Libretto, was dieser jedoch nicht annimmt. Daher beschließt Leoncavallo, eine eigene Oper „La Bohème“ zu komponieren. Puccini hat die Nase vorne und bringt seine Version ein Jahr vor Leoncavallos auf die Bühne. Die Freundschaft der beiden zerbricht. Sowieso ist Puccinis Verhältnis zu seinen Librettisten grenzwertig. Es wird ihm ein großer Verschleiß nachgesagt.

 Am 14. Januar 1900 wird „Tosca“ am Teatro Costanzi in Rom uraufgeführt. Die Geschichte spielt in Rom, im Juni 1800. Der revolutionär gesinnte Maler Cavaradossi sympathisiert mit den Republikanern. Als er einem Verfolgten zur Flucht verhelfen will, wird seine Geliebte, die berühmte Sängerin Tosca eifersüchtig, denn sie vermutet eine andere Frau hinter seiner Geheimniskrämerei. Daher mißlingt das Vorhaben. Der skrupellose Polizeichef Scarpia will Tosca für seine Interessen ausnutzen und beide Verräter überführen. Auf der Engelsburg findet das Drama sein blutiges Ende. Tosca springt von den Mauern der Burg hinab in den Tod.

Im Februar 1904 wird seine exotischste Oper „Madame Butterfly“ an der Mailänder Scala uraufgeführt. Sie spielt um das Jahr 1900 in Nagasaki. Die Vorstellung wird zu einem Fiasko, und Puccini beginnt am nächsten Tag schon mit der ersten Umarbeitung, zum Beispiel schreibt er für Pinkerton eine neue Arie „Addio fiorito asil“, die ausdrückt, wie sehr ihn sein schäbiges Verhalten Butterfly gegenüber belastet. Insgesamt schreibt Puccini seine „Madame Butterfly“ fünfmal um. Heute ist sie zusammen mit „La Bohème“ und „Tosca“ eine der weltweit meistgespielten Opern.

Im Dezember 1910 bringt er „La fanciulla del West“ in der Metropolitan Oper in New York zur Uraufführung. Die Oper spielt in einem Goldgräberlager in Kalifornien während des Goldrauschs der Jahre 1849 und 1850. Puccinis operettenhafte und wohl unbedeutendste Oper „La Rondine“ kommt im März 1917 in Monte Carlo auf die Bühne. 

Im Dezember 1918 hat „Il trittico“ Uraufführung an der Metropolitan Oper in New York. Es ist hierbei Puccinis Wunsch, ein tragisches (Il tabarro), ein lyrisches (Suor Angelica) und ein heiteres Stück (Gianni Schicchi) an einem Abend zur Aufführung zu bringen. Obwohl die drei Teile gut harmonisieren, wird „Il trittico“ selten als Gesamtwerk gespielt. Häufiger sind Einzelaufführungen, vor allem von „Gianni Schicchi“. Zu dessen Erfolg die Arie der Lauretta: „O mio babbino caro“ nicht unwesentlich beiträgt.

Seine letzte Oper „Turandot“ spielt im alten China und handelt von der gleichnamigen kaltherzigen Prinzessin, die jeden Freier köpfen läßt, der die ihm gestellten drei Rätsel nicht zu lösen vermag. Ein unbekannter Prinz wagt, trotz Warnung um die Hand Turandots zu werben. Die Prinzessin stellt ihm die Aufgaben, die er wider aller Erwartung enträtseln kann. Aber dennoch möchte sie sich ihm nicht hingeben. Der über beide Ohren verliebte Prinz Calàf schlägt vor, sie von ihrer Verpflichtung zu entbinden und den Freitod zu wählen, wenn sie bis zum Sonnenaufgang seinen Namen errät. Die Prinzessin verfügt, daß in dieser Nacht keiner schlafen darf, bevor nicht der Name des Prinzen bekannt ist. „Nessun dorma“ – „Keiner schlafe“ ist die bekannteste Arie aus dieser Oper, und jeder Opernliebhaber hat bei Erwähnung des Titels sofort die Stimme Luciano Pavarottis im Ohr.

„Turandot“ bleibt unvollendet. Puccini, der ein passionierter Raucher war, stirbt am 29. November 1924 in einem Krankenhaus in Brüssel an Kehlkopfkrebs. Das Puccini-Denkmal in seiner Heimatstadt Lucca zeigt ihn mit einer Zigarette zwischen den Fingern.

„Turandot“ wird am 25. April 1926 an der Mailänder Scala uraufgeführt. Arturo Toscanini bricht die Vorstellung mit den Worten ab: „An dieser Stelle starb der Maestro.“


Filmtip: „Puccini – Magier der Leidenschaft“ lautet der Titel einer Dokumentation von Volker Schmidt-Sondermann und Axel Fuhrmann über das Leben des letzten Großmeisters der italienischen Oper. Die 45minütige Filmbiographie mit historischem Archivmaterial, Interviews und Spiel-szenen ist bis zum 17. November 2025 in der ARD-Mediathek verfügbar. www.ardmediathek.de


Arnold Jacobshagen: Giacomo Puccini und seine Zeit. Laaber-Verlag, Lilienthal 2024, gebunden, 408 Seiten, 31 Abbildungen, 15 Notenbeispiele, 42,80 Euro


Foto: Giacomo Puccini (1858–1924), digital bearbeitet nach einem Foto: „Ich lebte für die Kunst, lebte für die Liebe“ (Arie aus „Tosca“)