Für das US-amerikanische Institut für Kriegsforschung (ISW) war die Sache klar: „Das einzige grundsätzlich neue Merkmal der russischen Angriffe auf die Stadt Dnipro am 21. November waren die Oreschnik-Raketen, die demonstrativ mit Wiedereintrittskörpern ausgestattet waren, um das Spektakel des Angriffs zu verstärken und zusätzlich eine nukleare Bedrohung anzudeuten.“ Die Rakete, die mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden kann, kam also ohne die apokalyptische Ladung. Ob es sich dabei tatsächlich um eine Interkontinentalrakete handelte, wird von Militärexperten bezweifelt. Als wahrscheinlich gilt eher, daß es sich bei der Oreschnik um eine modifizierte Mittelstreckenrakete vom Typ RS-26 Rubezh handelt.
Dieses neue Raketensystem zeichnet sich durch mehrere fortschrittliche Merkmale aus: Es verfügt über ein MIRV-System (Multiple Independent Targetable Reentry Vehicle), das es erlaubt, mehrere Sprengköpfe auf verschiedene Ziele zu lenken. Bei dem jüngsten Einsatz waren sechs Sprengköpfe integriert, von denen jeder wiederum sechs kleinere Ladungen enthielt. Die geschätzte Reichweite der Oreschnik liegt zwischen 2.500 und 3.500 Kilometern, möglicherweise sogar bei bis zu 5.000 Kilometern, was sie zu einem der leistungsstärksten Systeme ihrer Kategorie macht. Ihre hohe Geschwindigkeit – wenn auch nicht im Hyperschallbereich – macht es bestehenden Abwehrsystemen wie dem Patriot-System schwer, sie effektiv abzufangen, wenn auch nicht unmöglich.
Die Region Königsberg ist eine russische Festung an der Ostsee
Mit dem Ukraine-Krieg hat ein neues Zeitalter des nuklearen Säbelrasselns begonnen. Auf der einen Seite nutzt Moskau seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine sein Kernwaffenarsenal als politische Waffe und versucht, durch gezielte Drohungen und demonstrative Einsätze die westliche Unterstützung für Kiew zu untergraben. Die ständige Betonung der Einsatzbereitschaft nuklearer Waffen und die regelmäßigen Verweise auf neue, fortschrittliche Raketensysteme wie die Oreschnik dienen nicht nur der Abschreckung, sondern auch der Einschüchterung. Indem Rußland seine nukleare Schlagkraft ins Zentrum seiner militärischen Strategie rückt, signalisiert es dem Westen die hohen Risiken einer weiteren Eskalation.
Zudem hat sich Rußlands Nukleardoktrin in den vergangenen Jahren stark verändert. Während die Strategie offiziell auf Abschreckung basiert, senkt sie die Schwelle für den Einsatz nuklearer Waffen durch die sogenannte „Eskalation-zur-Deeskalation“-Taktik. Dieses Konzept sieht den gezielten Einsatz von Nuklearwaffen in regionalen Konflikten vor, um eine Eskalation zu beenden und die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Diese Neufassung der Doktrin senkt die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen, indem sie deren Einsatz auch bei konventionellen Angriffen durch Nicht-Atommächte erlaubt, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Eine gewisse Undurchsichtigkeit, wann genau Rußland hier willens wäre, nuklear zu eskalieren, ist Teil der psychologischen Kriegsführung.
Begleitet wird diese Strategie von einer umfassenden Modernisierung des russischen Arsenals. Interkontinentalraketen wie die RS-28 „Sarmat“, die mehrere Sprengköpfe tragen können, und Hyperschallwaffen wie der Awangard- Stratosphären-Gleitflugkörper, der bestehende Raketenabwehrsysteme umgehen soll, sind zentrale Bestandteile. Hinzu kommen taktische Nuklearwaffen wie die Iskander-M, die sowohl konventionell als auch nuklear bestückt werden können und speziell für regionale Einsätze entwickelt wurden. Oder der interkontinentale ballistische Schwerlastflugkörper R-36M Voyevoda (Nato-Name: SS-18 Satan). Er wurde noch in der Sowjetunion entwickelt und hat eine Reichweite von 10.000 bis 16.000 Kilometern. Nach Angaben der amerikanischen Publikation Military.com ist die R-36M Voyevoda-Rakete die stärkste der Welt. Sie sei in der Lage, die Raketenabwehr zu überwinden und jeden beliebigen Punkt auf dem Gebiet der USA mit mindestens zehn thermonuklearen Blöcken zu treffen, so ein Bericht des privaten russischen Fernsehsenders RTVI.
Königsberg (Kaliningrad) ist für die nukleare Abschreckungsstrategie Rußlands derzeit nicht mehr wegzudenken. Die Bedeutung Kaliningrads als militärisches Drehkreuz wird durch seine geographische Lage verstärkt. Die Exklave liegt nur etwa 500 Kilometer von Berlin entfernt und etwa 1.200 Kilometer von Brüssel, dem Hauptsitz der Nato, was es Rußland erlaubt, einen Großteil Europas abzudecken. Diese strategische Nähe, gepaart mit der Reichweite der in Kaliningrad stationierten Waffensysteme, stellt eine Herausforderung für Strategen in EU und der Nordatlantischen Allianz dar.
Eines der wichtigsten Waffensysteme in Kaliningrad sind die Iskander-M-Raketen. Mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern können diese Raketen in kürzester Zeit Ziele in Polen, Litauen, Lettland und Teilen Deutschlands erreichen. Ihre hohe Mobilität und die Schwierigkeit, sie zu lokalisieren, machen sie zu einem zentralen Element der strategischen Abschreckung.
Ergänzt werden sie durch die Kaliber-Marschflugkörper, die von russischen Überwasserschiffen und U-Booten gestartet werden. Er fliege niedrig über der Oberfläche in einer Höhe von 10 bis 150 Metern und könne über unebenem Gelände kreisen. Dank all dieser Eigenschaften werde „Kaliber“ vom Radar nur schlecht erfaßt, könne aber trotzdem abgefangen werden, so RTVI. Mit einer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern können sie Ziele in Mitteleuropa, einschließlich Deutschland, Frankreich und Skandinavien, ins Visier nehmen.
Gerade operativ-taktische Raketensysteme vom Typ Oniks (Reichweite 300 Kilometer; Nato-Code: SS-N-26) sind auch bei Kaliningrad stationiert. Ein Beamter des Verteidigungsministeriums erklärte gegenüber RTVI an einem Stand mit russischen Raketenentwicklungen auf dem Forum Army-2023, daß zu den potentiellen Zielen von Iskander gegnerische Raketensysteme, Mehrfachraketenwerfer und Langstreckenartillerie, Flugzeuge und Hubschrauber auf Flugplätzen, Kommandoposten und Kommunikationsknotenpunkte gehören.
Zudem lagert Rußland auch taktische Atomwaffen in Königsberg und hat dort taktische und konventionelle Raketenschlagübungen durchgeführt. Darüber hinaus hat Rußland in Kaliningrad MiG-31-Abfangjäger stationiert, die mit den hochmodernen Kinzhal-Hyperschallraketen ausgerüstet sind. Diese Raketen erreichen Geschwindigkeiten von bis zu Mach 10, haben eine Reichweite von 2.000 Kilometern und sind in der Lage, sowohl konventionelle als auch nukleare Sprengköpfe zu tragen. Durch ihre Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit sind sie darauf ausgelegt, bestehende Raketenabwehrsysteme zu durchbrechen, was sie zu einer erheblichen Bedrohung für zentrale Infrastrukturziele in ganz Mitteleuropa macht. „Man kann argumentieren, daß Kaliningrad eine Art Festung an der Ostsee ist, mit vielen Marschflugkörpern und anderen Waffen, so daß es weiterhin eine Bedrohung darstellt“, erklärte Steven Wills, ein Forscher am Center for Naval Analyses, in einer Folge des Podcasts CNA Talks.
Die Tomahawk-Marschflugkörper sollen vermehrt in Europa stehen
Auf der anderen Seite agieren die USA mit einer geplanten Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Europa. Ab 2026 sollen in Deutschland Tomahawk-Marschflugkörper und SM-6-Raketen stationiert werden, um eine strategische Lücke zu schließen, die durch das Ende des INF-Vertrags entstanden ist. Dieser Vertrag, der seit 1987 die Stationierung nuklearfähiger Mittelstreckenraketen in Europa untersagte, wurde 2019 aufgelöst, nachdem Rußland mit der Entwicklung der SSC-8-Raketen gegen die Vertragsbedingungen verstoßen hatte. Befürworter der US-Maßnahme argumentieren, daß sie notwendig sei, um auf die Bedrohungen aus Rußland zu reagieren, insbesondere durch die militärische Präsenz in Kaliningrad und Belarus.
Kritiker hingegen befürchten eine erneute Rüstungsspirale und sehen in der Stationierung eine unnötige Provokation gegenüber Moskau. Auch innerhalb Deutschlands ist das Thema umstritten, nicht zuletzt weil es an den Nato-Doppelbeschluß der 1980er Jahre erinnert, der zu massiven Protesten führte. Verteidigungsminister Boris Pistorius bezeichnete die Stationierung als vorübergehende Maßnahme, bis Europa eigene Mittelstreckenwaffen entwickelt hat, wie sie im Rahmen des ELSA-Programms bis 2030 geplant sind.
Die gegenwärtig eingesetzten Tomahawk-Marschflugkörper, die nun in Europa stationiert werden sollen, kommen in der Variante BGM-109C/D und sind ausschließlich für konventionelle Einsätze ausgelegt und nicht nuklear bestückbar. Sie verfügen über hochexplosive Sprengköpfe, die präzise Angriffe auf Bodenziele ermöglichen. In US-Sicherheitskreisen wird jedoch diskutiert, ob die USA eine nuklear bestückbare Version der Tomahawk entwickeln sollten, wie sie bis 2010 noch existierte. Mit einer Reichweite von bis zu 1.600 Kilometern könnte die Nato hiermit zunächst konventionell Ziele innerhalb Rußlands bekämpfen. Ergänzt wird das konventionelle Paket durch die SM-6-Systeme mit einer Reichweite von 500 Kilometern sowie die Increment-4-Mittelstreckenrakete, die noch nicht finalisiert zur Verfügung steht.
Jedoch scheint die wichtigste Waffe die Dark Eagle zu sein. Eine Hyperschallwaffe, die derzeit von Lockheed Martin und Northrop Grumman entwickelt wird und zeitnah in Serie produziert werden soll. Mit einer geplanten Reichweite von über 2.500 Kilometern und Geschwindigkeiten von mehr als Mach 5 soll sie in der Lage sein, hochrangige, schwer verteidigte und zeitkritische Ziele präzise anzugreifen. Obwohl das Programm in den vergangenen Jahren durch Testprobleme verzögert wurde, absolvierte sie zuletzt am 28. Juni einen erfolgreicher Flugtest auf Hawaii. Die Entwicklungskosten pro Einheit werden auf rund 40 Millionen US-Dollar geschätzt. Laut der US Army vereint die Dark Eagle eine einzigartige Kombination aus Geschwindigkeit, Manövrierfähigkeit und Flughöhe, die es gegnerischen Abwehrsystemen äußerst schwer machen soll, sie abzufangen.
Westeuropa und die Nato stehen vor der gewaltigen Herausforderung, auf die zunehmende Bedrohung durch die modernisierten russischen Raketenabwehrsysteme zu reagieren. So sehen gerade die baltischen Staaten und Polen die Bewaffnung der Region Königsberg als größte Gefahr ihrer Sicherheit an. Entsprechend hat Polen kürzlich eine in den USA hergestellte Himars-Raketenbatterie in der Nähe der Grenze zu Kaliningrad aufgestellt.
Zwar haben Länder wie Deutschland angekündigt, in eigene Langstreckenwaffen und Raketenabwehrsysteme wie die European Sky Shield Initiative zu investieren, doch bleiben diese Projekte größtenteils in der Planungsphase stecken und sind erst mittelfristig einsatzbereit. Der Aufbau eines wirksamen Abwehrschirms gegen Hyperschallwaffen wie die russische Kinzhal oder strategische Systeme wie die Iskander-M ist technisch und finanziell äußerst anspruchsvoll.
Die Nato setzt zudem auf die Integration amerikanischer Systeme wie Patriot oder Aegis Ashore, die jedoch nur begrenzt gegen moderne Raketenabwehrtechnologien wirksam sind. Auch das System Arrow 3, das Teil von Sky Shield werden soll, könnte unzureichend sein, um sich gegen die russischen Raketen zu verteidigen.
Denn Arrow 3 ist speziell darauf ausgelegt, ballistische Raketen in großer Höhe und noch außerhalb der Erdatmosphäre abzufangen. Mit einer Reichweite von bis zu 2.400 Kilometern bietet das System theoretisch Schutz vor Raketen wie der russischen Iskander oder Interkontinentalraketen, wenn diese frühzeitig entdeckt werden. Kaum geeignet ist es jedoch zur Abwehr von modernen Hyperschallraketen, von denen Rußland einige im Köcher hat.
Ostwestliche und westöstliche Raketenreichweiten – Deutschland und Polen im Fadenkreuz / Grafik siehe PDF Ausgabe