© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/24 / 29. November 2024

Selenskyj läuft die Zeit davon
Ukraine: Sowohl innen- als auch außenpolitisch macht sich Kriegsmüdigkeit breit
Felix Hagen

Etwas über zwei Wochen nach der US-Präsidentschaftswahl sprechen in der Ukraine unverändert die Waffen. Anders als von einigen erhofft, hat sich die Lage zuletzt sogar noch deutlich verschärft. Mitverantwortlich dafür ist auch der scheidende, aber immer noch amtierende US-Präsident Joe Biden. Er hatte zuletzt der Ukraine die Erlaubnis erteilt, mit gelieferten Waffen aus US-amerikanischer Produktion feindliche Ziele weit im russischen Hinterland anzugreifen. Eine Entscheidung, der sich neben Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auch der britische Premierminister Keir Starmer anschloß, während Bundeskanzler Olaf Scholz noch zögert, der ukrainischen Bitte nachzukommen. 

Die russische Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Mit dem Abschuß einer neuartigen Hyperschallwaffe auf ein Industriezentrum in der ukrainischen Stadt Dnipro dürfte der Krieg in eine neue, gefährlichere Phase eingetreten sein. Während sich darüber offenbar alle Seiten im klaren sind, bleibt das Kalkül der jeweiligen Akteure im dunkeln.

Noch am deutlichsten nachvollziehbar ist das Handeln der Administration in Kiew. Der Krieg im Osten des Landes wird im Land zunehmend unbeliebt, über die Hälfte der Ukrainer fordert mittlerweile offen ein schnelles Ende des Krieges, selbst wenn dafür territoriale Verluste hingenommen werden müssen. Gegenwärtig spitzt sich die Lage insbesondere in den Orten Welyka Nowosilka, Kurachowe und Selydowe in der Oblast Donezk zu, wo den ukrainischen Truppen die Einkesselung durch die Russen droht.

Mit Blick auf die außenpolitische Unterstützung läuft Präsident Wolodymyr Selenskyj die Zeit davon. In Westeuropa sinkt die Bereitschaft zur finanziellen und militärischen Unterstützung der Ukraine, und Donald Trump wird, so zumindest die Ankündigung im Wahlkampf, ebenfalls nach seiner Machtübernahme auf ein schnelles Ende des Konflikts drängen. Nur eine Eskalation der Lage in bislang ungeahntem Ausmaß könnte eine Trump-Administration dazu bewegen, den Krieg weiter mitzutragen, vielleicht sogar Nato-Truppen in der Ukraine einzusetzen. Denkbar ist etwa eine No-Fly-Zone von Nato-Kräften mit Flugfeldern in Polen und Rumänien, oder die Entsendung von Logistik- und Sanitätstruppen. Das wäre jedoch ein Spiel mit dem Feuer – und Leidtragender dieser Eskalation wären in erster Linie die Ukrainer selbst. Pikant daran: Eine Verlängerung des Kriegs wäre auch eine Verlängerung der Amtszeit des geschäftsführenden Präsidenten. Selenskyj hatte Neuwahlen zuletzt auf eine Zeit nach dem Ende der Auseinandersetzungen verschoben. 

Sowohl Kiew als auch der Kreml wollen die letzte Chance auf größere Geländegewinne nutzen, denn jeder eroberte Quadratkilometer dient als Faustpfand am grünen Tisch. Anders als sein ukrainischer Amtskollege hat Rußlands Präsident Wladimir Putin die Zeit allerdings auf seiner Seite.

Paris und London denken über Entsendung von Truppen nach

Je schneller der Krieg zu Ende ist, desto schneller kann wieder zur Tagesordnung übergegangen werden, so die Hoffnung einiger im Kreml, etwa zur Diversifikation der eigenen Handelspartner. Trotz aller brüderlichen Rhetorik weiß auch Putin, wie stark seine einseitige Abhängigkeit von China geworden ist. Jedes Kriegsjahr verschärft diese Abhängigkeit und macht sich an anderen Fronten bemerkbar. Bereits in den letzten Jahren mußte der einstige Hegemon etwa im Kaukasus Zugeständnisse an kleinere, lokale Akteure machen. 

Einer dieser Akteure ist die Türkei, die sich seit der Ablehnung ihrer BRICS-Mitgliedschaft in einem seltsamen Schwebezustand befindet und über nicht besonders viele Freunde in der nächsten Trump-Administration verfügen wird. Kein Wunder also, daß sowohl in Ankara als auch in Moskau an einer engeren wirtschaftlichen Kooperation gearbeitet wird. Präsident Erdoğan bringt bereits seit längerem sein Land als Pendel zwischen Ost und West in Stellung, als Nato-Mitglied könnte auch die Türkei als Garantiemacht eines kommenden Friedens auftreten und daraus weiteres außenpolitisches Kapital schlagen. 

Deutlich unübersichtlicher gestaltet sich die Lage in Westeuropa. Während Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine schwierig zu balancierende rechte Mehrheit im EU-Parlament im Nacken sitzt, konnten sich Paris und Berlin zuletzt kaum mehr auf eine gemeinsame Tagesordnung einigen. Auch deshalb schaut man sich im Élysée-Palast nach anderen Partnern für ein offensiveres Vorgehen im Konflikt um. Gemeinsam mit Großbritanniens Premierminister Starmer und kleineren EU-Partnern sei man zu einer Entsendung von Truppen in die Ukraine bereit, hieß es jüngst. Was Selenskyj mit Freude erfüllen wird, dürfte bei Olaf Scholz auf Ablehnung stoßen. Wie diese Entsendung genau aussehen und ob sie überhaupt Realität wird, ist unklar, denn sowohl Starmer als auch Macron machen im Moment eher den Eindruck von Getriebenen als Treibern. 

Weder der Franzose noch der Engländer verfügen über Ansprechpartner im Trump-Team. Sollte in Mar-a-Lago eine neue Strategie für die Ukraine erdacht werden, müßten beide ihre Informationen dazu aus der Tagespresse beziehen. Hinzu kommt, daß Starmer vor der Herausforderung steht, seine heruntergewirtschafteten Streitkräfte irgendwie so umzustrukturieren, daß dabei wenigstens der Kernauftrag der Landesverteidigung noch gewährleistet werden kann. Sollten Soldaten dieser noch unbestimmten Koalition bei einem russischen Angriff zu Schaden kommen, wäre immerhin ein wesentlicher Schritt hin zu einer Fortführung des Krieges und damit auch zu einem weitergehenden US-Engagement auch nach der Machtübergabe in Washington getan. 

Damit bleibt als letzter Akteur der scheidende US-Präsident, dessen Rolle allerdings undurchsichtig ist. Zumindest die Freigabe ukrainischer Schläge im russischen Hinterland scheint Biden mit seinem Nachfolger abgesprochen zu haben, der sich auffällig mit Kommentaren zur aktuellen Lage in Osteuropa zurückhält. Trumps Kalkül dürfte hier von innenpolitischen Erwägungen geleitet werden. Jede Eskalation zum jetzigen Zeitpunkt würde Biden und seinen Demokraten angelastet werden, jeder ukrainische Geländegewinn – so unwahrscheinlich er auch sein mag – die Verhandlungsposition nach der Machtübernahme verbessern. Ohnehin geht Trump vermutlich von einer sehr kleinen Verhandlungsrunde aus; weder Europäer noch Selenskyj dürften hier berücksichtigt werden. Am ehesten noch Hoffnungen auf einen wie auch immer gearteten Einfluß dürfte sich Viktor Orbán machen. Der Ungar verfügt als einziger Europäer über einen hervorragenden Draht zu Donald Trump und könnte dem Amerikaner beratend zur Seite stehen.