© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/24 / 29. November 2024

Brombeeren an Brandmauer
Koalitionsverhandlungen: In Mitteldeutschland nehmen Minderheitsregierungen Gestalt an
Paul Leonhard

Genau 126 Seiten skizzieren die Leitlinien, nach denen in Thüringen künftig Politik gemacht werden soll. Auf dieses Papier haben sich knapp drei Monate nach der Thüringer Landtagswahl, aus der die AfD als stärkste Kraft hervorgangen ist, die Spitzen von CDU, BSW und SPD Ende vergangener Woche in Erfurt geeinigt und das Ganze dem Landtag präsentiert. Nun sollen die Parteigremien darüber abstimmen. Der Koalitionsvertrag, der die Basis des künftigen Brombeer-Bündnisses bilden soll, dürfte aber auch im benachbarten Sachsen und in Brandenburg genau gelesen und analysiert werden.

In Potsdam sind die Verhandlungen zwischen SPD und BSW weit fortgeschritten, aber es gebe eben auch noch „eine ganze Reihe“ offener Fragen, meinte BSW-Landes- und Fraktionschef Robert Crumbach. Anfang Dezember soll der kleinste gemeinsame Nenner für eine Zusammenarbeit der beiden Parteien vorgestellt werden. Eine Einigung sei bereits in den Bereichen Bildung/Kultur, Inneres/Justiz, Wirtschaft/Gesundheit sowie Verkehr und Umwelt erzielt worden, hieß es seitens der SPD-Landtagsfraktion. Gegenwärtig werde über die Themen Bürokratieabbau und Digitalisierung beraten, die als Schwerpunkte der neuen Legislaturperiode gelten.

Der Zeitplan ist eng gestrickt. Für kommende Woche haben beide Verhandlungspartner jeweils einen Landesparteitag angesetzt, der über den Koalitionsvertrag abstimmen sollen. Wird er angenommen, steht für den 11. Dezember die Wiederwahl von SPD-Chef Dietmar Woidke als Ministerpräsident durch den Landtag auf der Tagesordnung.

So weit ist sein Kollege Michael Kretschmer in Sachsen noch lange nicht. Die Situation des geschäftsführenden CDU-Ministerpräsidenten wird immer komplizierter, was mit an dem fehlenden Mut der Sachsen-Union liegt, allein Regierungsverantwortung zu übernehmen. Nach dem für den Görlitzer überraschenden Ausstieg des BSW aus den Koalitionsverhandlungen sind ihm nur die vertrauten Sozialdemokraten geblieben. Aber ein Bündnis mit ihnen reicht noch nicht für eine Mehrheit im Landesparlament. So wird Kretschmer, sollte es zu einer schwarz-roten Koalition kommen, nicht nur ständig auf die Befindlichkeiten des sozialdemokratischen Juniorpartners achten, sondern auch noch Stimmen aus der Opposition organisieren müssen. Und wahrscheinlich auch noch darauf zu achten haben, daß eine Mehrheit – Stichwort „Brandmauer“ – nicht durch Abgeordnete der AfD zustande kommt.

Die nötigen Stimmen erhoffen sich CDU und SPD, die zusammen lediglich 51 von 120 Abgeordneten stellen, dadurch zu erhalten, daß sie Teile der Opposition frühzeitig einbinden. Kretschmer spricht von einem neuen Konsultationsmechanismus im Vorfeld von Abstimmungen. Jede Fraktion und jeder Abgeordnete solle dabei „eigene Vorschläge, eigene Anregungen“ vorbringen können, die dann in Gesetzesvorhaben „eingearbeitet werden können und auch sollen“.

Ziel sei es, die „Gedanken und Interessen aller Bürger im Freistaat“ einzubeziehen, „wirklich aller“. Ein Versuch, jenen – auch innerhalb der sächsischen CDU – den Wind aus den Segeln zu nehmen, die eine pauschale Ausgrenzung der AfD als Mißachtung des Willens von rund 30 Prozent der sächsischen Wähler kritisieren.

Bei Abstimmungen stets auf wackligen Füßen 

Es ist ein Balanceakt, wenn Kretschmer künftig zwischen dem Einbringen von Ideen und Abstimmungen unterscheiden will – ohnehin sind große Teile der CDU-Ziele von der AfD übernommen. Offiziell wird eine Zusammenarbeit mit der zweitstärksten Fraktion im Dresdner Landtag weiterhin ausgeschlossen, aber offenbar würde er die Zustimmung einzelner AfD-Abgeordneter zu seinen Gesetzesvorhaben akzeptieren. Wie BSW und Linke mit dieser Idee umgehen, ist offen. Fest steht aber, daß das Tischtuch zwischen CDU und den Bündnisgrünen, die an der letzten Kretschmer-Regierung  beteiligt waren, zerschnitten ist.

Sachsens Ministerpräsident habe aus „Verbohrtheit“ gegenüber den Grünen eine stabile Regierung preisgegeben, ätzte die grüne Landeschefin Christin Furtenbacher auf der Landesversammlung ihrer Partei in Chemnitz. Aktuell herrsche in Sachsen „ein einziges Chaos mit unklaren Mehrheiten“. Die SPD bezeichnete sie als „rückgratlos“. Zu den von den Delegierten beschlossenen Grundsätzen und Bedingungen für die künftige Zusammenarbeit mit einer Minderheitsregierung gehört der Ausschluß einer Zusammenarbeit mit der AfD und eine verläßliche Unterstützung der Ukraine. Die Wut über Kretschmer ist insbesondere bei der noch amtierenden Justizministerin Katja Meyer so groß, daß sie in Chemnitz unter dem Applaus der Delegierten betonte, wenn sich Kretschmer zur Wahl als Ministerpräsident stelle, „kann es von uns Bündnisgrünen aus heutiger Sicht nur ein Nein geben“.

Und auch in Brandenburg, wo SPD und BSW eigentlich eine Zwei-Stimmen-Mehrheit besitzen, ist die Wiederwahl Woidkes nicht sicher. Ein BSW-Abgeordneter kündigte an, den SPD-Chef nicht zu wählen, solange dieser am Ausbau des Luftwaffenstützpunktes Schönewalde/Holzdorf festhalte. Das sächsische Modell der Konsultation will auch Thüringen anwenden, denn auch dort steht das, was CDU-Landeschef Mario Voigt als „das Fundament für eine neue, handlungsfähige Regierung“ lobt, nämlich daß „die Bürger im Mittelpunkt“ stehen, abstimmungsmäßig auf wackligen Füßen. Das sogenannte Brombeer-Bündnis bringt es gerade auf 44 der 88 Landtagsmandate.

Allerdings sind auch hier viele Ziele des Dreierbündnisses identisch mit denen, die die auch in Thüringen ausgegrenzte AfD deutschlandweit wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt hat und wofür sie in Thüringen zur stärksten Fraktion, versehen überdies mit einer Sperrminorität, aufstieg.

Weniger Asylbewerber aufzunehmen, die Polizei aufzustocken, die Ärztequote zu erhöhen, Bildung zu fördern, Wirtschaft und Arbeitsplätze zu sichern – alles das steht im Koalitionsvertrag. Viele AfD-Stimmen dürften Voigt daher sicher sein, was dieser als wahrscheinlicher Ministerpräsident zwar will, damit Thüringen nicht erneut in Berlin als „politischer Problemfall“ angesehen wird.

Über die Annahme des Koalitionsvertrags soll seitens der CDU der Landesausschuß entscheiden. Das BSW wird Ende nächster Woche einen Parteitag abhalten, und die SPD bittet ihre rund 3.400 Mitglieder um eine Onlineabstimmung. Ziel ist es, daß Voigt noch vor Weihnachten Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) ablöst und zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt wird.


Foto: SPD-Landeschef Georg Maier, CDU-Fraktionschef Mario Voigt, BSW-Fraktionschefin Katja Wolf und der Co-Landesvorsitzende des BSW Steffen Schütz (v.l.n.r.) präsentieren ihren Koalitionsvertrag im Thüringer Landtag: „Fundament für eine neue, handlungsfähige Regierung“