Herr Professor von Kielmansegg, beschließt der Bundestag nun das AfD-Verbotsverfahren?
Peter Graf von Kielmansegg: Das ist offen.
Die Initiatoren wollen ihren Antrag noch vor dem Christfest im Plenum debattieren und verabschieden.
Kielmansegg: Ja, aber ob das Verbotsverfahren überhaupt kommt, kann derzeit niemand mit einiger Sicherheit sagen.
Wovon hängt das ab?
Kielmansegg: Das Bundesverfassungsgericht wird hier nur auf Antrag des Bundestags, des Bundesrats oder der Bundesregierung tätig. Doch verpflichtet, einen solchen Antrag zu stellen, sind sie nicht. Die Bemühungen der Befürworter eines Verbotes konzentrieren sich auf den Bundestag, und die vorgezogene Neuwahl hat sie unter Zeitdruck gesetzt, denn sie möchten, daß das Parlament noch in dieser Legislaturperiode entscheidet. Aber ob es ihnen gelingt, eine Mehrheit der Abgeordneten für ihre Sache zu gewinnen, ist ungewiß. Bisher hat sich keine der Bundestagsfraktionen als solche für einen Verbotsantrag ausgesprochen.
Wäre aus politikwissenschaftlicher Sicht ein Verbotsverfahren denn inhaltlich gerechtfertigt?
Kielmansegg: Verfassungswidrigkeit bemißt sich an den Kriterien, die Artikel 21 Grundgesetz nennt, der Rechte und Pflichten der Parteien beschreibt. Der Begriff „extremistisch“, der ja die öffentliche Debatte dominiert, taucht dort allerdings gar nicht auf.
Das heißt, der Artikel muß ausgelegt werden?
Kielmansegg: Ja, und das ist Sache des Bundesverfassungsgerichts, nur seine Auslegung hat Verfassungsrang. Die Politikwissenschaft hat da keine besondere Zuständigkeit. Es gibt aber nicht nur die Rechtsfrage, es gibt auch die Frage, ob ein Verbotsantrag sinnvoll und ein Verbot, so denn gerechtfertigt, auch vernünftig ist; will sagen, was es bewirkt und nicht bewirkt.
Und wäre ein Verbotsantrag gerechtfertigt?
Kielmansegg: Artikel 21 spricht von Parteien, die „darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“. Das Bundesverfassungsgericht hat daraus in früheren Urteilen – gegen die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei 1952 und die KPD 1956 – abgeleitet, daß Voraussetzung für ein Verbot ein aktives, kämpferisches Hinwirken auf das so beschriebene Ziel ist. Daß die AfD diese Bedingung erfüllt, bezweifle ich. Allerdings hat das Gericht in der Begründung seines Urteils im NPD-Verbotsverfahren 2017 die Akzente etwas anders gesetzt als in seinen Verbotsurteilen aus den fünfziger Jahren. Breiten Raum nimmt nun das Argument ein, in vielen der NPD zuzurechnenden mündlichen und schriftlichen Äußerungen werde die Menschenwürde bestimmter Gruppen nicht respektiert und damit Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ verletzt. Wie es diesbezüglich bei der AfD aussieht, kann verläßlich nur beurteilen, wer das vom Verfassungsschutz gesammelte Material kennt – ich kenne es nicht.
Anders als geplant will es der Verfassungsschutz nun auch erst nach der Bundestagswahl vorlegen.
Kielmansegg: Ja, doch unabhängig von der Kenntnis des Verfassungsschutzmaterials halte ich die Tendenz, die hier sichtbar wird, für problematisch.
Inwiefern?
Kielmansegg: Das bisherige Kriterium – also das aktive Hinwirken auf das Ziel, unsere Verfassungsordnung durch eine zu ersetzen, die nicht mehr demokratisch und rechtsstaatlich genannt werden kann – läßt sich im Fall des Falles ziemlich eindeutig als solches erkennen. Dagegen ist die Antwort auf die Frage, welche politischen Äußerungen die Menschenwürde bestimmter Gruppen verletzen, viel offener. Vor allem aber: Die Verfassungswidrigkeit einer Partei an den Meinungsäußerungen einzelner Funktionäre und Mitglieder festzumachen, führt sehr schnell zur Kollision mit dem für die Demokratie konstitutiven Grundrecht der freien Meinungsäußerung – oder etwas anders formuliert, mit dem für die Demokratie essentiellen Prinzip, den Raum der freien Diskussion so weit offen zu halten wie irgend möglich. Daher ist das Kriterium der aktiven Bekämpfung von Demokratie und Rechtsstaat als Verbotsbedingung unverzichtbar.
Sie haben bereits in einem Gastbeitrag für die „NZZ“ vor einem Verbot der AfD gewarnt. Warum?
Kielmansegg: Ich habe dort die Frage aufgeworfen, wie würden die Wähler der AfD auf das Verbot der Partei reagieren. An dieser Frage kommen wir nicht vorbei. Das Verbot einer wählerstarken Partei, deren Verfassungswidrigkeit nicht glasklar zutage liegt, muß in einer Demokratie gefährliche Verwerfungen zur Folge haben. Daß man die Wähler der AfD auf diesem Wege zu überzeugten Anhängern der grundgesetzlichen Demokratie machen könne, ist eine sehr naive Erwartung. Insbesondere die AfD-Wähler in den ostdeutschen Ländern würden das Verbot wohl als Entzug des Wahlrechts wahrnehmen. Die Assoziation „Die Bundesrepublik ist genauso undemokratisch wie die DDR“ wäre unvermeidlich. Was das für die politische Entwicklung im Osten hieße, kann niemand vorhersagen. Zum Besseren würden sich die Dinge aber sicher nicht wenden.
In einem weiteren Gastbeitrag für die „FAZ“ haben Sie gefragt: „Weiß man eigentlich, was man der Demokratie mit einer solchen Ausgrenzungskampagne antut?“
Kielmansegg: Ich habe dort von demokratiewidriger Ausgrenzung nicht in bezug auf die AfD, sondern auf die politischen Feldzüge „gegen Rechts“ gesprochen, die keinen Unterschied zwischen „rechts“ und „rechtsextrem“ mehr machen. Diesen Versuch, alles, was nicht den eigenen linken Überzeugungen entspricht, als demokratiewidrig zu stigmatisieren, habe ich als Halbierung der Demokratie bezeichnet.
Zu den Grundelementen unserer Demokratie gehört nach Definition des Bundesverfassungsgerichtes unter anderem das Recht auf Partizipation und Opposition sowie die Chancengleichheit der politischen Parteien. Werden diese Rechte im Fall der AfD verletzt?
Kielmansegg: Solange das Verfassungsgericht eine Partei nicht für verfassungswidrig erklärt, sollten in der Tat ihre Rechte auf Teilhabe in den Verfassungsorganen, in denen sie vertreten ist, respektiert werden. Wenn Personen in Ämter gewählt werden, geht es freilich immer auch um die Eignung, insbesondere die Vertrauenswürdigkeit der Kandidaten. Wenn die AfD Personen vorschlägt, an deren Eignung begründete Zweifel bestehen, sollte sie sich nicht darüber wundern, daß es für diese keine Mehrheiten gibt. Und für eine Partei, die Putin ziemlich nahesteht, gilt insgesamt, daß man sie aus guten Gründen zumindest nicht in den Gremien haben möchte, die Geheimdienste und Verfassungsschutz überwachen. Da geht es um die Partei an sich, nicht nur um Personen.
Apropos Verfassungsschutz:Welche Relevanz sollte er Ihrer Ansicht nach für ein Urteil über die AfD haben?
Kielmansegg: Je eindeutiger und plausibler die Kriterien für die Verfassungswidrigkeit von Parteien sind, desto besser kann der Verfassungsschutz die Aufgabe der Beobachtung erfüllen. Dazu, daß es derzeit um Eindeutigkeit und Plausibilität nicht gut bestellt ist, trägt er selbst bei. Er beansprucht durch seinen Noch-Präsidenten eine Rolle, die ihm nicht zukommt, vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Er ist zu einer Art Vorverfassungsgericht geworden. Verkündet er öffentlich das Urteil „gesichert rechtsextremistisch“, ist das fast, als hätte das Verfassungsgericht gesprochen. Zudem suggeriert das „gesichert“ eine objektive Meßbarkeit des Sachverhaltes, die so nicht gegeben ist.
Wie ist es zu bewerten, daß der Verfassungsschutz früher (zumindest offiziell) auf Grundlage der bereits genannten Kriterien des Bundesverfassungsgerichtes aus den fünfziger Jahren gearbeitet hat, heute aber seine Einschätzung der AfD hauptsächlich auf Kriterien beruht, die er selbst geschaffen hat, wie zum Beispiel die „Delegitimierung des Staates“?
Kielmansegg: Die Einstufung der AfD als in Teilen rechtsextremistisch wird in der Tat wesentlich mit ihrem „völkischen“ Weltbild begründet. Die Verfassungsfeindlichkeit dieses Weltbildes wird, wie gesagt, daraus hergeleitet, daß es Artikel 1 des Grundgesetzes verletze. Der Vorwurf, daß der Verfassungsschutz Verfassungsfeindlichkeit an politischen Überzeugungen und nicht an politischem Handeln festmache, ist deshalb nicht ganz unbegründet. Allerdings hat das Verfassungsgericht selbst – davon war ebenfalls schon die Rede – dem Artikel 1 in seinem NPD-Urteil als Maßstab, an dem das Weltbild der Partei zu messen sei, eine Schlüsselbedeutung zugewiesen; der Verfassungsschutz ist da also nicht völlig eigenmächtig unterwegs. Aber das ändert an der Problematik dieser Entwicklung nichts. Sie wird besonders greifbar angesichts des politisch hoch kontroversen Themas, um das es beim Vorwurf völkischen Denkens vor allem geht: Migration. Jede Eingrenzung des Raumes freier Diskussion ist bei einem solchen Thema in einer Demokratie mehr als heikel und bedarf einer Begründung, die jeder Prüfung standhält.
Eine nicht hinreichende Begründung birgt die Gefahr des Scheiterns. Droht der AfD daher der Versuch, daß man ihr stattdessen die Parteienfinanzierung entzieht oder vielleicht nur einzelne Landesverbände verbietet?
Kielmansegg: Die staatliche Parteienfinanzierung kann nur durch das Bundesverfassungsgericht entzogen werden; und nur dann, wenn das Gericht die Partei für verfassungswidrig erklärt. Wird sie verboten, ist der Wegfall der Finanzierung aus Steuern selbstverständliche Folge. Nur bei einer Einstufung als verfassungswidrig ohne Verbot käme die finanzielle Waffe selbständig zum Einsatz. Darüber aber entscheidet, wie gesagt, keine politische Instanz, sondern Karlsruhe. Und auch ein Verbot von Landesverbänden kann nur von dort ausgehen.
„Das Scheitern des Antrags“, so FDP-Vizefraktionschef Konstantin Kuhle, „wäre eine Katastrophe“. Warum wäre es eine „Katastrophe“, wäre die zweitstärkste Partei nicht verfassungswidrig und also demokratisch?
Kielmansegg: Wenn das Verfassungsgericht einen Verbotsantrag verwirft, ist damit nur gesagt: die Partei ist nicht verfassungswidrig – unter Umständen, wie im Fall der NPD, nicht einmal das. Niemand ist deswegen verpflichtet, über die Existenz dieser Partei glücklich zu sein. Man dürfte die AfD auch nach der Verwerfung eines Verbotsantrages weiterhin für eine höchst problematische Partei halten und sie als solche politisch bekämpfen. Wer die Dinge so sieht, kann die mögliche Stärkung der Partei durch ein scheiterndes Verbotsverfahren durchaus so qualifizieren wie Herr Kuhle das tut.
Entscheidend ist, zwischen unserem politischen System – also der freiheitlich-demokratischen Grundordnung – und der aktuellen Regierung zu unterscheiden. Denn wer letztere kritisiert, schmäht oder demokratisch bekämpft, schmäht oder bekämpft nicht automatisch auch unser System. Ist aus Ihrer Sicht überhaupt zu erkennen, daß die AfD nicht nur auf eine Überwindung der Politik der Bundesregierung hinauswill, sondern auf eine Überwindung unserer verfassungsmäßigen Ordnung?
Kielmansegg: Natürlich ist die Unterscheidung zwischen legitimer Opposition und dem Kampf für eine andere, nicht mehr demokratische und nicht mehr rechtsstaatliche Verfassungsordnung essentiell. Die AfD bewegt sich nach meinem Eindruck bewußt auf der Grenze. Das mag auch mit ihrer heterogenen Mitgliedschaft zusammenhängen. Programmatisch ist sie vorsichtig. Aber sie duldet in ihren Reihen vielerlei Beziehungen zu Kräften, an deren Verfassungstreue zu zweifeln es gute Gründe gibt. In den Verfassungsschutzberichten kann man Genaueres über die Verflechtungen nachlesen. Zudem macht die AfD diesen Staat in ihrer politischen Rhetorik nach Kräften verächtlich. Selbst wenn man ihre Rhetorik für durch Artikel 5 des Grundgesetzes gedeckt hält, auf eine auch nur elementare Loyalität gegenüber unserem Gemeinwesen läßt sie nicht schließen. Sie dient der Erzeugung und Bestärkung von Wut. Ein Beitrag zur Stabilisierung von Demokratie ist das nicht. Und schließlich: Eine Partei, die einen Mann mit den Anschauungen von Björn Höcke zum Kandidaten für die Ministerpräsidentschaft eines Bundeslandes macht, bewegt sich vielleicht schon nicht mehr auf, sondern bereits jenseits der Grenze.
Wie soll man aus Ihrer Ansicht mit der Partei umgehen?
Kielmansegg: Man soll sich, erstens, mit ihr politisch auseinandersetzen, argumentativ, gründlich und scharf. Diese Auseinandersetzung ist bisher vernachlässigt worden. Dabei bietet die Partei genug Angriffspunkte, von ihrer populistischen Programmatik über ihr in vielen Fällen problematisches Personal bis zu ihrem miserablen politischen Stil. Allein schon die Nähe zu Putin und seinem Regime ist skandalös. Man muß, zweitens, entschlossen die Probleme angehen, die hinter der Verachtung für und der Wut auf den Politikbetrieb stehen, die die AfD groß gemacht haben. Es besteht ja nicht der geringste Zweifel daran, daß wir ohne die jahrelange Weigerung der Politik, das Problem der faktisch offenen Grenzen ernst zu nehmen, die AfD, die wir heute haben, nicht hätten. Das Vertrauen, daß jedenfalls die große Mehrheit der Bürger für Argumente und für die Erfahrung offen ist, daß demokratische Politik zu lernen vermag, ist für die Demokratie essentiell.
Prof. Dr. Peter Graf von Kielmansegg machte immer wieder mit pointierten Standpunkten auf sich aufmerksam, so in „Deutschland und der 1. Weltkrieg“ (1968), als er gegen die damals populäre These argumentierte, die Gründung des Deutschen Reichs 1871 habe zwangsläufig in die Weltkriege geführt. Der Historiker und Politologe schrieb etliche Bücher, darunter „Nach der Katastrophe. Geschichte des geteilten Deutschland“ (2000), „Die Grammatik der Freiheit“ (2013) oder „Gemeinwohl und Weltverantwortung“ (2022). Als Sproß einer alten Soldatenfamilie – Vater Johann Adolf zählt zu den „Vätern der Bundeswehr“, Bruder Hanno war Stabschef der Nato-Heeresgruppe Nord – in Hannover 1937 geboren, lehrte er in Köln, Washington und hatte in Mannheim einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft inne. Bis 2009 war er zudem Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.