Am Anfang war Merkel: So fing die Geschichte des Abstiegs der Union, des Aufstiegs der AfD, auch des Endes verläßlicher Regierungsmehrheiten in Deutschland an. Bei allen Koalitionsverhandlungen ist nun die AfD die Bezugsgröße, und zwar gerade für die geschwächte Union. Denn mit der AfD darf nichts, gegen sie muß alles gehen.
Auf diese Weise schaffen CDU/CSU nämlich denen, welche die Restbestände linksgrüner Hegemonie verwalten, eine Art Nachsommer. Noch einige Jahre lang werden Grüne, Sozialdemokraten und Sozialisten Deutschland viel stärker prägen, als das ihrem Rückhalt im Staatsvolk entspricht. Der SPD dient die Union als Rettungsboot, das sie im Frühjahr erneut an Regierungsgestade bringt. Auch die Grünen und das BSW hoffen dort auf einen Platz, entweder an der Seite der SPD oder anstatt ihrer. Journalisten und Akademikerschaft werden das loben als Rettung vor dem sonst zu befürchtenden Abdriften der Union nach rechts. Den Wählern stößt es sauer auf, daß so die politische Linke an der Macht bleiben wird, obwohl die von ihr angerichteten Schäden immer deutlicher hervortreten. Auch das Auflodern des BSW-Strohfeuers hatte mit der AfD zu tun. Mit Einwanderungsbegrenzung und russophilem Pazifismus griff nämlich eine „frische Partei von links“ genau jene Themen auf, die jeder „Zugriff von rechts“ vergiftet.
Alle heutigen innenpolitischen Probleme, einschließlich der parlamentarischen Mehrheitslosigkeit einer realistischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, wurden durch die Unterschätzung der aufkommenden AfD und das Ausbleiben eines strategischen Umgangs mit ihr verschuldet. Anders als NPD oder DVU machte sich die AfD mit der Eurozonen- und Migrationspolitik von Anfang an reale Probleme zu ihren Mobilisierungsthemen. Also mißlang es, sie durch Herabsetzung und Ausgrenzung zu besiegen. Verschwand sie aber so wenig wie die sie ins Leben rufenden Politikprobleme, hätte doch politische Weitsicht die Verfolgung einer der folgenden Strategien geboten.
Entweder mußte man jene Probleme lösen, deren Dahinschwären die AfD als Hoffnungsträgerin erscheinen ließ. Das hätte eine Korrektur der unter Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begonnenen Migrations-, Energie- und Gesellschaftspolitik verlangt. Das aber verweigerte so gut wie die gesamte Politiker- und Journalistenschaft, und zwar mit dem dürftigen Argument, damit würde man „die Themen der AfD bedienen“.
Alternativ hätte man mit „den Blauen“ verfahren können wie einst die SPD mit den als Antisystem-Partei gestarteten Grünen sowie später mit der PDS/Linken: Man eröffnet dem Realo-Flügel eine Machtperspektive, dank welcher er sich gegen Fundi-Radikale durchzusetzen vermag. Und versucht so, eine neue politische Bewegung ins Parteiensystem einzugliedern.
Doch lagen solche strategischen Überlegungen außerhalb des Vorstellungshorizonts unserer Politiker-, Journalisten- und Akademikerkreise. Statt Strategie wurde Taktik betrieben, dabei die AfD gemästet, und anschließend klagte man im Kreis Gleichgesinnter, der „Kampf gegen Rechts“ sei mit demokratiegefährdenden Folgen am Scheitern. Und natürlich braucht es kein Orakel, um zu erkennen: Eine CDU, die einer nachweislich nicht-linken Bevölkerungsmehrheit regelmäßig Mitte-Links-Regierungen beschert und sich dabei nicht scheut, auch dem BSW liebedienerisch zu kommen, wird weiterhin Wähler an die AfD verlieren.
Die Thüringer Koalition wird der CDU im Bundestagswahlkampf also schaden. Der Kanzlerkandidat Friedrich Merz kann nämlich aufgrund der – von ihm gewollten – Kontaktsperre nach rechts gar nichts anderes in Aussicht stellen als ein Bündnis mit der abgewirtschafteten SPD, garniert mit den Grünen, dem BSW oder gar mit beiden. Wie ahnungslos ob der Stimmung im Land muß wohl sein, wer in dieser Lage argumentiert, gerade wegen solcher Koalitionsperspektiven leuchte vielen Wählern die Notwendigkeit einer Stärkung der Union ein?
Und was verrät es über das Können des sächsischen Ministerpräsidenten, wenn er vor fünf Jahren eine CDU-geführte Minderheitsregierung ob ihrer „zu geringen Stabilität“ ablehnte, nun aber eine Koalitionsregierung mit der SPD ohne (!) Parlamentsmehrheit zur Chance für die parlamentarische Demokratie aufplustert? Und zwar indem man fortan durch einen „Konsultationsmechanismus“ vor (!) der Einbringung einer Regierungsvorlage in den Landtag alle „zur Mitarbeit willigen“ Fraktionen einbinden werde.
Damit verglichen, läßt sich die kommende SPD/BSW-Koalition in Brandenburg fast loben. Dort wächst offenbar zusammen, was zusammengehört – wenn auch einige SPD-Politiker lieber ins innere Exil als in ein Landeskabinett mit BSW-Beteiligung gehen. Die vielen Koalitionen mit der PDS, welcher das BSW letztlich entsprang, haben die SPD nur in Regierungsämtern, doch nicht wirklich an der Macht gehalten. Vielmehr ist die AfD stark geworden, als erhofftes Korrektiv zu jener Politik links der Mitte, die auf so vielen Feldern kaum noch punktet: Sie kostet mehr an Finanz-, Sozial- und Kulturkapital als sie erwirtschaftet.
Es wird also bald auf einen doppelten Entscheidungskampf hinauslaufen. Den einen hat die Union in den eigenen Reihen zu führen. Er geht um die Frage, ob man durch bedingte Kooperationsangebote an die AfD die Möglichkeiten von Mitte-Rechts-Regierungen erkunden und so einem weiteren Schrumpfen der eigenen Partei an der Seite von SPD & Co. entgehen will. Den anderen Kampf hat die AfD auszufechten: Wer in ihr traut sich, auch ohne gesicherte Machtperspektive das Ringen gegen jene Verbalradikalen neu aufzunehmen, welche die AfD zum Paria unter Deutschlands Parteien gemacht haben? Anscheinend lebt Merkels Geist im resignierenden Unions-Glauben an die Alternativlosigkeit auch offensichtlich scheiternder Ausgrenzungspolitiken weiter. Schlecht so.
Prof. em. Dr. Werner J. Patzelt ist Forschungsdirektor des Mathias Corvinus Collegium (MCC) und hatte den Lehrstuhl für Politikwissenschaft der TU Dresden inne.