Alle Völker haben ein Recht auf Selbstbestimmung, heißt es in der Charta der Vereinten Nationen. Eine Unabhängigkeit gelingt allerdings nur wenigen der etwa 8.000 Völker auf der Erde. Dabei brachte das 20. Jahrhundert eine Explosion von Nationalstaaten und -bewegungen hervor. Allein seit der Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1946 hat sich die Zahl der Mitgliedsstaaten fast vervierfacht, vor allem infolge der Entkolonialisierung. Bis heute bleiben weltweit sechzig Separatistenbewegungen aktiv. Woran die Nationalbewegungen der Welt scheitern und wann sie erfolgreich sind, erklärt Martin Grosch umfangreich in seinem Buch „Sezessionen“ anhand von mehr als zwei Dutzend Beispielen.
Zum Anfang analysiert der Militärhistoriker die gängigen Erklärungen der Begriffe „Volk“ und „Nation“. Dabei kritisiert er Versuche linker Intellektueller, vor allem den letzteren Begriff zu „dekonstruieren“ und zu verwässern. Zwar sei dessen „allgemeingültige Definition“ nicht möglich, doch vor allem europäische Nationen mit gemeinsamer ethnischer Abstammung hätten sich als besonders widerstandsfähig erwiesen. Des weiteren nennt er den politischen Willen und die geopolitischen Machtverhältnisse als entscheidenden Faktor. So könnten zahlreiche kleinere Völker ohne einen militärischen Schutzschirm und wirtschaftliche Unterstützung nicht existieren.
Wie wichtig Machtverhältnisse sind, hält Grosch unter anderem am Beispiel des ehemaligen Jugoslawien fest. So sei etwa Bosnien-Herzegowina „ein Quasi-Protektorat der EU“, welches als künstliches Gebilde ohne Hilfe von außen nicht existieren würde. Auch der Kosovo verdanke seine Unabhängigkeit der Nato-Intervention vor einem Vierteljahrhundert. Aber auch Beispiele wie die Abspaltung Bangladeschs von Pakistan, die ohne indischen Militäreinsatz nicht gelungen wäre, belegen dies. Die Zukunft multiethnischer Staaten wie Südsudan, die vor allem durch den gemeinsamen Feind in muslimischen Norden zusammengehalten würden, sieht Grosch bedroht.
Ebenso kritisch schätzt er regionale Separatistenbewegungen im Westen ein. Dieser sei im eigenen Interesse darauf bedacht, keine Begehrlichkeiten auf Abspaltung zu wecken. Stattdessen soll er lokale Identitäten respektieren und auf politische Autonomie im gemeinsamen Nationalstaat setzen. Zum Schluß erinnert er an die „unverzichtbare Rolle“ der Nation, die den Pluralismus gewährleiste und eine Gemeinschaftsgrundlage biete.
Das Buch liefert damit eine detailierte Darstellung völkerrechtlicher und geopolitischer Nuancen, die die Weltordnung bestimmen – und entgegen dem Wunsch vieler noch lange eine entscheidende Rolle in zahlreichen Debatten spielen werden.
Martin Grosch: Sezessionen. Das erbitterte Ringen um Unabhängigkeit. Olzog Imprint im Lau Verlag, Reinbek 2024, gebunden, 352 Seiten, 28 Euro