Sie sind überall zu sehen. Am Frühstücks-tisch, auf dem Weg zur Arbeit, in der Mittagspause, auf dem Heimweg, beim Abendessen: Menschen, die zwar äußerlich noch da sind, aber die Welt eigentlich nur noch durch das Smartphone in ihrer Hand erleben. Die neuen Sozialtechnologien haben das Zusammenleben gründlich umgepflügt. Wie sehr, wird an denjenigen ersichtlich, die kein distanziertes Verhältnis zu diesen Technologien mehr haben können, weil sie in ihrem jungen Leben gar nichts anderes kennengelernt haben.
Tatsächlich ist bereits eine ganze Generation von Jugendlichen herangewachsen, die vollständig von den neuen Sozialen Medien durchkonditioniert wurde. Was das ganz konkret heißt und wie sich das auf die psychische Gesundheit auswirkt, erforscht der renommierte US-Psychologe Jonathan Haidt. Sein Buch „Generation Angst“ ist ein Resümee dessen. Trotz des wissenschaftlichen Hintergrundes bietet es auch für den Laien einen spannenden und gut lesbaren Überblick über die Folgen dieser gewaltigen Sozialrevolution.
Haidt wirft dabei einen pessimistischen Blick auf die Entwicklung. „Viele waren erleichtert, als sie herausfanden, daß ein Smartphone oder ein Tablet ein Kind stundenlang beschäftigen und ruhig halten konnte“, erinnert er sich rückblickend, der selbst als Familienvater den ersten Einzug von IPhone & Co. ins Kinderzimmer erlebte. Tatsächlich übergaben die Eltern unwissend ihren Erziehungsauftrag an neu aufkommende High-Tech-Konzerne, die ihre Möglichkeiten der Konditionierung ausnutzten. Haidt spricht hier von der „Großen Neuverdrahtung.“
Tatsächlich bietet der Direktzugriff auf Millionen Kinderhirne ungeheure Möglichkeiten. Die Strategien laufen entlang althergebrachter Geschlechterrollen. Heranwachsende Mädchen werden über die Sozialen Medien gelenkt, Jungs über Videospiel- und Erotikplattformen. Ein tagtäglicher beziehungsweise nächtlicher Sog, der für die Minderjährigen ein ungeheures Suchtpotential besitzt. Am Ende stehen letztlich unbekannte Influencer und andere Manipulatoren als Bezugspersonen, die als Autoritäten mit den eigenen Eltern konkurrieren.
Verschlechterung der psychischen Gesundheit unter den Nutzern
Das Buch gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil beschreibt Haidt einen deutlichen Anstieg von psychischen Erkrankungen bei Teenagern ab 2010, der ihn und Kollegen erstmals alarmierte. Beispielsweise stieg bis 2020 die Zahl der Jugendlichen im Alter von zwölf bis 17 Jahren mit schweren Depressionen um das Zweieinhalbfache an. Ein durchgehender Trend in der englischsprachigen Welt, wie Haidt nachweist; sein Tatverdächtiger – eine neue Generation von Mobiltelefon, die ab 2007 ihren Siegeszug startete.
Immer leistungsfähigere Kameraobjektive und Digitalfilter schufen dabei eine völlig neue Selbstwahrnehmung. Und mit der Internetfähigkeit ein immer größeres Publikum, das über alles und jeden urteilte. „Ob ein Mädchen Filter benutzte oder nicht, das Bild, das es im Spiegel sah, wurde im Vergleich zu dem Mädchen, das es auf dem Bildschirm seines Smartphones sah, immer weniger attraktiv.“ Haidt spricht von einem Verlust einer „spielbasierten Kindheit“, den er im zweiten Teil in einem historischen Überblick seit den achtziger Jahren beschreibt.
Haidts Argumentationslinie: Durch eine elterliche Überfürsorge wurden Aktivitäten von Kindern zunehmend in die Wohnung verbannt, wo bald ein PC seinen Platz fand. Doch reicht das aus, um von einem Verlust der Kindheit und einer „Großen Neuverdrahtung“ zu sprechen? Im empiriegesättigten dritten Teil begibt sich Haidt auf Spurensuche. „Ich habe fünf Studien gefunden, die die Einführung von Highspeed-Internet rund um die Welt untersucht haben, und alle fünf fanden Hinweise auf eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit unter den Nutzern“, heißt es beispielsweise.
„Cybermobbing“ – in den Pubertätsstürmen der heranwachsenden Jugendlichen bedeutet dies eine völlig neue Herausforderung. Ausgangspunkt sind häufig Nacktbilder, die in wachsender Zahl gewissermaßen als neue Prestige-Währung zwischen den Minderjährigen zirkulieren. Und nicht nur hier. Durch die Anonymität des Internets bei gleichzeitigem Geltungsbedürfnis in den sozialen Medien ist es für Erwachsene spielend einfach, Kontakte zu Kindern und Jugendlichen zu knüpfen – Nacktfoto inklusive. Denn wer nicht mitmacht, gilt als prüde.
Zwar sind hier vor allem Mädchen betroffen. Doch auch für Jungs hält die Entwicklung Gefahren bereit. Einhergehend mit mobilen Endgeräten und des überall verfügbaren Internets steigt auch der Konsum von Pornographie und Videospielen in Dimensionen, die es schwer machen, im realen Leben echte Beziehungen zu knüpfen. „Die Große Neuverdrahtung der Kindheit lockte junge Menschen aus realen Gemeinschaften – auch den eigenen Familien – heraus und in vielerlei höchst veränderliche Netzwerke.“ Mit höchst fatalen Folgen für die moralische Entwicklung eines jungen Menschen.
Doch was dagegen tun? Im abschließenden vierten, praxisorientierten Teil zeigt Haidt Lösungsansätze auf, wie verantwortungsvoll mit den neuen Herausforderungen an die kindliche Entwicklung umgegangen werden kann. Neben Institutionen wie beispielsweise Schulen, die Schüler verpflichten können, Smartphones wegzuschließen, oder Tech-Konzernen sowie dem Gesetzgeber, die sich auf Mindestalter für soziale Plattformen einigen, sind vor allem auch die Eltern gefordert.
Haidt gibt diesen eine Fülle von Anregungen und vor allem Kontaktmöglichkeiten zu Gleichgesinnten an die Hand, freilich auf den englischsprachigen Raum zugeschnitten. Die Möglichkeiten sind vielfältig. So können sich beispielsweise Eltern in einer freiwilligen Verzichterklärung untereinander abstimmen, ihren Kindern vor einem bestimmten Alter kein Smartphone zur Verfügung zu stellen, um einen entsprechenden Konkurrenzdruck unter den Jugendlichen mit entsprechenden heimischen Auseinandersetzungen zu vermeiden.Vor allem forderte Haidt aber Eltern auf, Kinder wieder jenseits einer überbehüteten Welt Kinder sein zu lassen. Wer sich in der realen Außenwelt eine Selbständigkeit erringt, wird sich diese später auch in der fiktiven Welt des Internets bewahren können.
Jonathan Haidt: Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024, gebunden, 446 Seiten, 26 Euro