Der Begriff „Tendenzwende“ steht für die Umkehr einer Entwicklung, die bis dahin vorherrschte. Er bringt eine gewisse Zwangsläufigkeit des Prozesses zum Ausdruck, ähnlich dem „Trend“, von dem in den 1960er Jahren viel die Rede war, wenn man die wachsende Zustimmung für die politische Linke erklären wollte. Damit schien es Ende 1972 vorbei, trotz des triumphalen Siegs der sozial-liberalen Koalition bei der Bundestagswahl. Denn offenbar führte weder das Mehr-Demokratie-Wagen noch die Menge der angestoßenen Reformen zu den gewünschten Ergebnissen. Selbst unter den Anhängern der Regierung von Willy Brandt machte sich Ernüchterung breit angesichts der Verwahrlosung des öffentlichen Raums, des roten Terrors, der Inflation, des Ölpreisschocks, der steigenden Arbeitslosenzahlen und des Konjunktureinbruchs.
Aber es meldeten sich auch diejenigen zu Wort, die die Lage als Konsequenz einer Fehlentwicklung deuteten, die nicht erst vor kurzem eingesetzt hatte und dringend korrigiert werden mußte. Hier wurde „Tendenzwende“ als Aufforderung zu aktivem Handeln verstanden. Der wichtigste Wortführer dieser Linie war Gerd-Klaus Kaltenbrunner, damals einer der prominenten Köpfe des deutschen Konservatismus. Seit dem Frühjahr 1974 hatte Kaltenbrunner die erste Nummer seiner Taschenbuchreihe Herderbücherei Initiative vorbereitet, die dann im September unter dem Titel „Plädoyer für die Vernunft – Signale einer Tendenzwende“ erschien. Von Konservatismus war hier allerdings nur beiläufig die Rede, denn Kaltenbrunner ging es um eine breite Koalition all derer, die sich in der Bekämpfung des „neuen Irrationalismus“ einig sahen, wie ihn die Achtundsechziger-Bewegung verkörperte. Das gebot eine gewisse taktische Rücksichtnahme. Deutlicher hatte Kaltenbrunner sein Programm in einem Aufsatz für die Deutsche Zeitung formuliert. Die „Tendenzwende“ betrachtete er da als wünschenswerte Folge der „konservativen Welle“, die einen längerfristigen Prozeß einleiten müsse, der eine „neue Rechte“ hervorbringen werde, die der „neuen Linken“ auf deren eigenem Feld entgegentreten könnte: der Kultur.
Bemerkenswerterweise sah Kaltenbrunner in der Hinwendung der Wähler zu den Unionsparteien, die sich abzeichnete, keinen Grund zum Optimismus. „Die CDU“, hieß es in dem erwähnten Text, „ist keine konservative, sondern eine sozialliberale Partei“, und weiter: „… diese Partei ist nur Nutznießerin der sich abzeichnenden Tendenzwende. Sie hat diesen Umschwung weder herbeigeführt noch verdient. Sie hat ihn nicht einmal begriffen.“ Solcher Distanziertheit entsprachen Vorsicht und Mißtrauen auf seiten der Union gegenüber Kaltenbrunner und allem, wofür er stand. So hatte der damalige Generalsekretär der Partei, Kurt Biedenkopf, in mehreren Stellungnahmen die Charakterisierung der CDU als „konservativ“ ausdrücklich abgelehnt, und die „Modernisierer“ in den Führungskadern machten längst ihren Einfluß geltend, um einen „backlash“, wie Kaltenbrunner ihn erhoffte, zu verhindern.
„Alle geistigen Kräfte rechts vom Marxismus“ zusammenschließen
Andererseits war in der CSU die Forderung laut geworden, sich nicht mehr nur als „auch“ konservativ zu verstehen, sondern die „neokonservative Welle“, die alle westlichen Staaten zu erfassen schien, für eine prinzipielle Kurskorrektur zu nutzen, und es gab an der Unionsbasis viele, die gegen die Linke klare Kante zeigen wollten und das Signal zum Gegenangriff erwarteten. Zu deren Sprechern machte sich der baden-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn, der plante, „alle geistigen Kräfte rechts vom Marxismus“ in einer Front zusammenzuschließen.
Hahn war auch der „Drahtzieher“ (Peter Hoeres) einer Tagung unter dem Titel „Tendenzwende“, die in Zusammenarbeit mit dem Verleger Ernst Klett am 26. und 27. November 1974 in der Münchner Akademie der Schönen Künste durchgeführt wurde. Die Veranstaltung erregte großes öffentliches Interesse, nicht nur weil Bundespräsident Walter Scheel anwesend war und wegen der Prominenz der Redner – darunter Ralf Dahrendorf, der intellektuelle Star der FDP, der Sozialdemokrat Richard Löwenthal, der katholische Philosoph Robert Spaemann und der konservative Soziologe Arnold Gehlen –, sondern auch, weil hier mit Hermann Lübbe und Golo Mann zwei ehemalige Parteigänger Brandts auftraten, die sich enttäuscht von ihrem Hoffnungsträger abgewandt hatten.
Tatsächlich wurde der Kongreß in bürgerlichen Kreisen als Zeichen des Aufbruchs, im linken Lager als offene Kampfansage betrachtet. Entsprechend gereizt reagierte Jürgen Habermas, der Emanzipation wie Aufklärung in Gefahr sah, während der Spiegel titelte „Tendenzende des Zeitgeistes? Man trägt wieder konservativ? Ruck nach rechts?“ Und tatsächlich ließen die Initiatoren der Veranstaltung in München noch zwei weitere Tagungen folgen: 1978 „Mut zur Erziehung“ und 1980 „Aufklärung heute“. Aber zu dem Zeitpunkt war schon klar, daß der Impuls nicht die Wirkung entfaltete, die von Kaltenbrunner oder Hahn erwartet worden war.
Die Ursache dafür hat Armin Mohler damals in einem Beitrag für den Südwestfunk analysiert. Seiner Einschätzung nach wollten die frisch bekehrten „Liberalkonservativen“ den Begriff „Tendenzwende“ nur als Deckung nutzen, um nicht haftbar gemacht zu werden für das, was sie zuvor als „Liberale“ im Bund mit der Linken angebahnt hatten. Das sei von den Konservativen naiverweise akzeptiert worden, weil sie sich der Illusion hingaben, daß die Zeit sowieso für sie arbeite und sie quasi automatisch an die Macht zurückkehren könnten. Immerhin beobachtete man eine gewisse „konservative Gestimmtheit“ und glaubte die „schweigende Mehrheit“ wieder auf der eigenen Seite. Man habe deshalb übersehen, daß die Konservativen „den Liberalen und den Linken gegenüber nicht als gleichgewichtige Partner auftreten“ könnten, „weil sie im Gegensatz zu ihnen nicht über das verfügen, was man mit dem technologischen Wortschatz eine ‘Infrastruktur’ nennt“.
Wie richtig Mohlers Einschätzung war, wurde spätestens deutlich, als die Unionsparteien den Begriff der „Wende“ – sogar der „Geistig-Moralischen Wende“ – für ihre Wahlkämpfe entdeckten, aber nach dem Regierungswechsel von 1982 rasch jeden Anspruch auf politische Erneuerung dem „Pragmatismus“ opferten und nichts lieferten als „eine Nachgeburt der sozial-liberalen Koalition“ (Günter Rohrmoser).
Fotos: Der baden-württembergische Kultusminister Wilhelm Hahn (M.) und der Rektor der Ingenieursschule Karlsruhe Walter Huber während einer Studentendemonstration im Mai 1968: Der Drahtzieher der „Tendenzwende“ wollte gegen die Linke klare Kante zeigen und das Signal zum Gegenangriff geben
Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Eine „neue Rechte“ müsse der „neuen Linken“ auf dem Feld der Kultur entgegentreten können