Für den 29. November 1989 vermerkte Horst Teltschik, Abteilungsleiter für Äußeres, innerdeutsche Beziehungen und Sicherheitspolitik im Kanzleramt, in seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen, die „gesamte deutsche und internationale Presse“ berichte über die „Zehn-Punkte-Rede“ Helmut Kohls, die dieser am Tag zuvor im Bundestag gehalten hatte. „Das Echo ist überwältigend. Wir haben unser Ziel erreicht. Der Bundeskanzler hat die Meinungsführerschaft in der deutschen Frage übernommen.“ Das von Kohl präsentierte Programm, eine Art Stufenplan, zielte klar in Richtung deutsche Einheit. Nur wenige waren zuvor eingeweiht. Der Überraschungseffekt dürfte die Wirkung der Rede erheblich verstärkt haben.
Als Kohl am 8. November 1989 im Bundestag seinen „Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“ abgab, betonte er, die von ihm geführte Bundesregierung halte „insbesondere (…) an dem in der Präambel unseres Grundgesetzes verankerten Ziel fest, ‘in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden’“. Neu war dieses Bekenntnis niemandem, wenn es auch vor dem Hintergrund der sich in der DDR und im östlichen Europa vollziehenden Umwälzungen schon in einem etwas anderen Licht erschien. Fast buchstäblich über Nacht sollte sich die Situation am Folgetag ändern. Mit dem Fall der Mauer war die deutsche Frage plötzlich dem rein rhetorischen Bereich entrissen und wurde wieder zum Thema ersten Ranges.
Sowjetunion nahm „sogar quasi Undenkbares“ in ihre Betrachtung
Die Bundesregierung war auf eine derartige Situation unvorbereitet. Entsprechende Konzepte lagen nicht vor. Das Fehlen jeglicher Planung für den „deutschlandpolitischen Ernstfall“ zeigt, „wie sehr der operativen Politik diese Perspektive trotz aller programmatischen Konstanz abhanden gekommen war“, so der Historiker Andreas Rödder in seiner „Geschichte der Wiedervereinigung“.
In der Frage der Zukunft der deutschen Staatlichkeit gab es in der Bundesrepublik nicht nur Vorsicht und Bedachtsamkeit. Eine nicht geringe Zahl auch von maßgeblichen Politikern hatte seit längerem die Teilung akzeptiert und befürwortete nun deren Aufrechterhaltung. Exemplarisch vor Augen geführt wurde Kohl dies am 10. November etwa durch Walter Momper, den Regierenden Bürgermeister von Berlin. Der Sozialdemokrat sprach auf einer Kundgebung anläßlich des Mauerfalls vom „Volk der DDR“ und unterstrich, es gehe um ein „Wiedersehen und nicht um eine Wiedervereinigung“. Einen Tag später ließ sich Momper vernehmen, Kohl sei „dem Denken von gestern verhaftet“, dabei „quatscht er von Wiedervereinigung“.
Kohl selbst hielt sich unmittelbar nach dem 9. November mit Stellungnahmen bezüglich einer Wiedervereinigung zurück. Grund war neben der nicht vorhandenen Vorbereitung insbesondere Rücksicht auf Befürchtungen der europäischen „Partner“ sowie der Sowjetunion hinsichtlich der weiteren Entwicklung. Bei einem EG-Gipfeltreffen am 18. November 1989 in Paris glaubte Kohl zu spüren, „daß das Mißtrauen gegen uns Deutsche wieder da war“. Die Bundesregierung hatte jahrelang die Selbstbestimmung für die Bevölkerung im unfreien Teil Deutschlands gefordert; der Kanzler setzte in seinen Äußerungen zunächst auf diese wenig angreifbare Formel, etwa wenn er am 16. November im Bundestag erklärte: „Wir werden jede Entscheidung, die die Menschen in der DDR in freier Selbstbestimmung treffen, selbstverständlich respektieren.“
Auf den sich weiter fortsetzenden Demonstrationen in der DDR erklang inzwischen auch ein lautstarkes „Deutschland einig Vaterland“. Der neue SED-Ministerpräsident Hans Modrow sprach sich am 17. November dafür aus, „die Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten durch eine Vertragsgemeinschaft zu untersetzen“ – was gegen die Bestrebungen einer Einheit gerichtet war. In den bundesdeutschen Medien zeichnete sich ein ambivalentes Bild bezüglich der deutschen Frage ab. Befürworter der Einheit warfen der Regierung Tatenlosigkeit vor.
Teltschik war es dann, der am 23. November gegenüber Kohl drängte, „ein Konzept zu erarbeiten, das einen Gang zur deutschen Einheit aufzeigt, also realistisch sein muß und eingebettet in eine europäische Friedensordnung“. Unmittelbarer Anlaß war ein Signal aus Moskau. Zwei Tage zuvor war Teltschik mit dem sowjetischen Deutschlandexperten und Regierungsberater Nikolai Portugalow zusammengetroffen. Dieser übergab Teltschik eine Ausarbeitung, die auch einen inoffiziellen Teil enthielt, in dem Fragen der Widervereinigung, zum Beitritt der DDR zur EG und über einen Friedensvertrag zur Sprache kamen. Portugalow habe bemerkt: „Wie Sie sehen, denken wir in der deutschen Frage alternativ über alles mögliche, sogar quasi Undenkbares nach.“ Gedeutet wurde dies von deutscher Seite als – sensationell empfundene – Bereitschaft der Sowjetunion, die deutsche Einheit auf die Tagesordnung zu setzen. Über Ursprung und Hintergrund der sowjetischen Überlegungen herrscht bis heute Unklarheit. Möglicherweise vermutete man in Moskau, zu Unrecht, dezidierte Planungen seitens der Bundesregierung und war bestrebt, diese zu beeinflussen – während man in Wirklichkeit den Anstoß lieferte, in Bonn endlich tätig zu werden.
Kohl zeigte sich nun entschlossen. Die „Zehn Punkte“ wurden im sehr kleinen Kreis ausgearbeitet. Der Kanzler redigierte und formulierte in seinem Privathaus. Gern wird betont, daß Hannelore Kohl Teile der Rede auf ihrer Reiseschreibmaschine ins Reine schrieb. Kohl in seinen Erinnerungen: „Hätte ich die Zehn Punkte innerhalb der Koalition oder gar mit unseren Verbündeten abgestimmt, wären sie am Ende völlig zerredet worden. Jetzt war nicht die Stunde der Bedenkenträger, jetzt war die Stunde der Offensive.“
Der Bundeskanzler präsentierte die „Zehn Punkte“ dem überraschten Bundestag und der Öffentlichkeit in der eigentlich dem Haushalt gewidmeten Sitzung am 28. November. Die ersten fünf Punkte nahmen das geteilte Deutschland in den Blick. Erforderliche Sofortmaßnahmen bezüglich der DDR-Übersiedler und des Reiseverkehrs wurden behandelt und die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der DDR in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Eine Ausweitung der Hilfen an die DDR wurde zugesagt, wenn sich das System „unumkehrbar“ wandle. Man sei bereit, die von Modrow vorgeschlagene Vertragsgemeinschaft „aufzugreifen“, jedoch auch „noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung, in Deutschland zu schaffen.“ Dies setze jedoch eine demokratisch legitimierte DDR-Regierung voraus. Kohl meinte später, dieser Punkt sei „der zentrale und gleichzeitig sensibelste“ der Rede gewesen. Den ersten Teil der Rede schloß Kohl mit den Worten, niemand wisse, wie ein wiedervereinigtes Deutschland aussehen werde. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“
Der zweite Teil, die Punkte sechs bis zehn, war den internationalen Beziehungen und der entsprechenden Einbettung der angestrebten Einheit gewidmet. Der gesamteuropäische Prozeß, die Offenheit der EG auch nach Osten, eine KSZE-Weiterentwicklung und Abrüstung kamen zur Sprache. Schließlich kurz vor Schluß noch einmal das große Ziel: Mit „dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann.“ Zwei schwierige Positionen waren in den „Zehn Punkten“ ausgespart worden: die Frage der Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschlands und die Frage der polnischen Westgrenze.
SPD-Chef Lafontaine und die Grünen lehnten Kohls Pläne ab
Die Unionsfraktion gab stehende Ovationen. Hans-Dietrich Genscher war ob der nicht vorher erfolgten Information über die Rede seines Koalitionspartners verstimmt. Seine FDP folgte dann „im Einigungsprozeß der multilateral-integrationspolitischen Linie“ des Außenministers, „blieb dabei freilich weithin im Windschatten der vorwärtsdrängenden Kräfte der Union“, so der Historiker Rödder. Starken Beifall für die „Zehn Punkte“ gab es zunächst von der SPD, der Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel war sichtlich angetan. Der außenpolitische Sprecher der Fraktion, Karsten Voigt, erklärte, die Sozialdemokraten stimmten „in allen Zehn Punkten zu“ und bot eine Zusammenarbeit bei der Umsetzung an. Allerdings dominierten in der SPD bald die kritischen Stimmen. Oskar Lafontaine sprach von „Ko(h)lonialismus“ und bezeichnete die „Zehn Punkte“ als „großen diplomatischen Fehlschlag“. Die Grünen legten sich nach Kohls Rede ausdrücklich auf die Zweistaatlichkeit fest und präsentierten einen „Sieben-Punkte-Plan“ für einen „dritten Weg“.
Bereits am Folgetag von Kohls Rede signalisierten die USA Unterstützung der Wiedervereinigung, allerdings nicht ohne Außenminister James Baker grundlegende Prinzipien als Voraussetzung dafür mitteilen zu lassen. Zeitgleich beschied die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die deutsche Widervereinigung stehe „nicht auf der Tagesordnung“. Die französische Politik tendierte ebenso zur Ablehnung. Gorbatschow nannte die „Zehn Punkte“ ein Ultimatum. Im Zusammenhang mit Kohl bemühte er das Bild vom Elefanten im Porzellanladen. Mag letzteres den Kohl-Verächtern besonders gefallen haben – mit den „Zehn Punkten“, deren konkreter Inhalt zu großen Teilen schnell von der Entwicklung überholt wurde, war ein Prozeß in Gang gesetzt worden, der gegen die Einwände aller deutschen und internationalen Kritiker zehn Monate später zur deutschen Einheit führte.
Foto: Bundeskanzler Helmut Kohl erläutert im Deutschen Bundestag in Bonn am 28. November 1989 seinen Zehn-Punkte-Plan: „Jetzt war nicht die Stunde der Bedenkenträger, jetzt war die Stunde der Offensive“
Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit
1 – Sofortmaßnahmen humanitärer Art
Freie Ein- und Ausreise in die DDR
2 – Umfassende Wirtschaftshilfe
Enge Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokratischen Republik in wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technologischen und kulturellen Fragen. Schnelle Angleichung der Verhältnisse beim Telefonnetz sowie Herstellung von erweiterten Eisenbahnverbindungen
3 – Ausbau der Zusammenarbeit beider Staaten
Ausweitung der Zusammenarbeit nach grundlegendem Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR. Dieser beeinhaltet freie und geheime Wahlen, Recht auf Opposition, Abschaffung von politischem Strafrecht sowie bürokratischer Planwirtschaft
4 – Vertragsgemeinschaft
Vertragsgemeinschaft mit einem „dichten Netz von Vereinbarungen“ durch gemeinsame Kommissionen in Wirtschaft, Verkehr, Umweltschutz, Wissenschaft und Technik, Gesundheit oder Kultur
5 – Schaffung konföderativer Strukturen
Errichtung einer bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland. Voraussetzung ist eine vom Volk legitimierte und demokratisch gewählte Regierung der DDR. „Sogar eine deutsche Einheit ist greifbar, wenn dies im Sinne der Entwicklung in der DDR ist.“
6 – Einbettung des deutschen Einheitsprozesses in gesamteuropäische Entwicklung
Das neue Deutschland muß von seiner Architektur her in den europäischen Kontext passen.
7 – EG-Beitritt reformorientierter Ostblockstaaten
Reformorientierte Ostblockstaaten sollen der Europäischen Gemeinschaft beitreten und samt der DDR an den westlichen Markt herangeführt werden.
8 – Forcierung des KSZE-Prozesses
Abstimmung der jeweiligen Mitgliedstaaten über Menschenrechte, wirtschaftliche Zusammenarbeit, kulturelles Erbe und Umweltfragen
9 – Abrüstung und Rüstungskontrolle
Überwindung der Trennung Europas und der Teilung Deutschlands durch weitreichende und zügige Schritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Reduzierung der Nuklearpotentiale der beiden Supermächte USA und UdSSR
10 – Deutsche Einheit
Im Zustand einer europäischen Friedensordnung kann das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen. Die Wiedervereinigung bleibt das politische Ziel der Bundesregierung