© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/24 / 22. November 2024

Über die Nacktheit in der Malerei des Nahen Ostens
Kurze Befreiung von islamischer Moral

Darstellungen des weiblichen Akts werden im weiten Kulturraum des Halbmondes zwischen Marokko und Indonesien nicht geduldet. Doch der gegenwärtige Zustand sollte nach Ansicht der Kunsthistorikerin und Anthropologin Kirsten Scheid (American University of Beirut) nicht zum „orientalisierenden Klischee“ verleiten, muslimische Länder insbesondere der arabischen Welt hätten niemals Aktdarstellungen toleriert (Zeitschrift für Ideengeschichte, 4/2024). Tatsächlich habe es während der Zwischenkriegszeit eine umfangreiche künstlerische Produktion im gesamten ehemaligen Osmanischen Reich gegeben, welche die Bedeutung des Akts gerade für jene Künstler belege, die heute als Begründer moderner arabischer Kunst gelten. Aber anders als Scheid suggeriert, zeugt dies nicht von prinzipieller Toleranz des Islam, sondern nur vom Intermezzo seiner politischen Ohnmacht, als Aktmalerei ihr Publikum in einer westlich orientierten bürgerlichen Schicht in Algerien so gut wie in Ägypten, Palästina und vor allem im französischen Mandatsgebiet des Libanon fand. Dort formierte sich in den 1930er Jahren sogar eine Sektion der globalen FKK-Bewegung. Für diese Nudisten wie für die Exponenten der Aktmalerei war das „Ablegen der Hülle“, verstanden als Kleidung, Sitte oder Normvorstellung des Islam, ein Medium innerer Dekolonisierung. Zugleich traten Künstlerinnen hervor, die in der Gattung des Akts Frauenrechte stets mit verhandelten und die ihr Projekt der Emanzipation so lange fortsetzten, bis die „Kodifizierung des Islam innerhalb der heutigen Nationalstaaten“ diese Episode kreativer Selbstfindung beendete. (dg)

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